Unsere Lieblingsbücher
Was wir lesen!
Vier Kolleg:innen aus dem Frankfurter Verlagshaus der Büchergilde haben für Sie ihre persönlichen Lieblingsbücher aus dem aktuellen Quartalsprogramm zusammengestellt. Entdecken Sie hier auch die Beiträge aus den vergangenen Quartalen.
Lassen Sie sich begeistern und inspirieren – wir wünschen eine schöne Lektüre!
4. Quartal 2024
Mit Dopamin und Pseudoretten hat Varina Walenda einen klugen, facettenreichen und sprachlich absolut einzigartigen Roman geschaffen: Sie nimmt uns mit in die Alltagsrealitäten des Transmannes Janis – vom Aushilfsjob im Theater und Ausflügen in die alte Heimat inklusive Geschwisterrivalitäten über hippe und verdrehte Berliner Subkulturen bis hin zu Leben und Existieren in seiner WG am dreckigen Kotti in Berlin. Dort baut er sich eine „Matratzenterrasse“ – ein verkürztes Hochbett, dass ihn über der Welt schweben lässt. Wie beinahe jede:r von uns ist auch Janis nicht nur auf der Suche nach der eigenen Identität, sondern auch nach Liebe. Woran kann Liebe geknüpft sein? Muss man sich und wenn ja wie sehr für sie verändern? Ein rauer und doch so zarter Roman, der beim Lesen die Zeit nur so verfliegen lässt und sich gegen das „Othering“ von Transpersonen ausspricht.
Lea-Marie Rabe hat dieses Buchprojekt als Lektorin betreut und auch ein spannendes Interview mit der Autorin geführt. Nun freut sie sich einmal mehr, das Büchergildeprogramm in seiner Diversität erweitert zu haben.
Große Beobachtungsgabe, viel Feingefühl für seine Mitmenschen, eine gesunde Portion Selbstironie und lebendiger Erzählgeist – das macht für mich die autobiographische Erzählung des aus Theater und TV bekannten Schauspielers Jörg Hartmann aus.
Er lässt uns an unterschiedlichen Stationen seines Lebens teilhaben: Wir erfahren von seinen unkonventionellen Bestrebungen als Schauspielschüler, um ein Engagement an der Berliner Schaubühne zu erhalten. Er lässt uns an Gesprächen im Kreis seiner Familie teilhaben (und schreibt dabei sehr wirkungsvoll und plastisch im Ruhrpott-Slang der dort heimischen Eltern – nicht immer leicht zu lesen, aber dadurch wirkt es für mich authentischer). Hartmann bringt auch den Mut auf, davon zu berichten, wie ihn die letzte Phase des Lebens seines Vaters bewegt. Die Beziehungen zu seinen Eltern, Partnerinnen und Kindern schildert er einfühlsam und gewährt uns Einblicke in seine ambivalente Gefühlswelt. Das macht ihn für mich als Leser nahbar.
Keine Spur von Selbstdarstellung- und rechtfertigung oder Eitelkeit und Koketterie, wie es in so manchen autobiographischen Werken sogenannter Promis zu lesen ist. Jörg Hartmann wird auch künftig meine Aufmerksamkeit haben.
Michael Lübbecke, als Controller mit Gespür für Zahlen, Daten und Fakten, kann sich auch für anspruchsvolle und unterhaltende Literatur begeistern.
Träume und Schicksale, verpasste und sich neu auftuende Möglichkeiten und Gelegenheiten, darum geht es in den Episoden in Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Es geht auch darum, wie wir dahin gekommen sind, wo wir jetzt stehen. Wie stellen wir uns unsere Leben vor, könnten wir einen neuen Weg einschlagen, birgt das wirklich Chancen oder sollen wir es lieber sein lassen? Oft ist es nur ein winzig kleiner Moment, der unser Leben in neue Bahnen lenkt.
Bei aller Philosophie sprühen die Geschichten außerdem vor Witz und Humor, das Buch macht einfach viel Spaß. Und ich habe mich immer wieder gefreut über Saša Stanišićs unglaubliches Gespür für Sprache, darüber wie er mit ihr umgeht und was dann aus ihr entsteht, was sie transportiert: tiefe Empathie für seine Figuren, ein feinfühliges Verständnis für Situationen und einen offenen Blick auf das Leben.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Mississippi, Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Sklave Jim trifft während seiner Flucht aus der Gefangenschaft auf den jungen Huckleberry Finn, der von zuhause wegläuft, und die beiden werden ungleiche Weggefährten. Aber wer ist dieser Jim? Und was bedeutete es, in den US-amerikanischen Südstaaten Sklave zu sein?
Percival Everett findet in James Antworten auf diese Fragen. Er zeichnet ein berührendes, persönliches und zutiefst menschliches Porträt einer Person, der von der damaligen Gesellschaft jegliche Menschlichkeit abgesprochen wird. Und obwohl es immer wieder abenteuerlich und manchmal auch humorvoll zugeht, verliert der Roman nie an Wucht.
Die allgegenwärtige Ungerechtigkeit, sowie die Gewalt und Unmenschlichkeit, mit der die weißen Sklavenhalter agieren, und James‘ völlige Hilfslosigkeit angesichts all dessen, werden mich so schnell nicht loslassen. James liefert einen wichtigen Perspektivwechsel, den wir heute dringend brauchen.
Maria Voßhagen macht ihren Master in Deutscher Literatur und werkelt beim Digitalteam der Büchergilde mit.
3. Quartal 2024
Afrika: riesiges Naturreservat, Vergnügungspark für Touristen, die Luxus und Abenteuer suchen. Gaea Schoeters stellt klar, dass hier nicht nur wilde Tiere beheimatet sind. Hier leben insbesondere Menschen unter Umständen, die ihnen auch durch Kolonialismus und kapitalistische Wirtschaftspraktiken aufgezwungen sind. Westliche Moralvorstellungen und ein von Individualismus geprägter Lebensstil stehen dort auf dem Prüfstand. Das führt sich auch Hunter White, ein passionierter amerikanischer Großwildjäger vor Augen. Dennoch geht er einen teuflischen Pakt ein: er jagt nicht nur die „Big Five“, sondern nun auch einen indigenen Afrikaner. Dessen Stammesführer bieten Hunter einen der ihren als Freiwild an, um sich dafür das Studium für einen anderen finanzieren zu lassen. Eine Parabel zur Großwildjagd: ein Tier zum Abschuss freigeben, damit die Art überleben kann.
Die Geschichte ist spannend erzählt, die kenntnisreichen Naturbeschreibungen sind beeindruckend. Dennoch ist es die moralische Widersprüchlichkeit, die die Bedeutung dieses Buches ausmacht und die mich mit ambivalenten Gefühlen zurücklässt.
Michael Lübbecke, als Controller mit Gespür für Zahlen, Daten und Fakten, kann sich auch für anspruchsvolle und unterhaltende Literatur begeistern.
In der rückwärts erzählten Geschichte Lichtungen von Iris Wolff begegnen wir zwei jungen, stillen und klugen Menschen, Lev und Kato. In einem Land, in dem die Menschen unter den sozialistischen und diktatorischen Bedingungen leiden, sind die beiden schicksalhaft miteinander verbunden. Sie gehen einen Weg der Identitätssuche miteinander: Für Lev geht es vor allem um die Frage der Zugehörigkeit und die Infragestellung seiner Heimat, da er sowohl rumänische als auch deutsche (siebenbürgische) Vorfahren hat und er sehr oft Ablehnung erlebt. Kato sucht nach Freiheit und künstlerischer Entfaltung.
Nach dem Ende des Sozialismus trennen sich die Wege der beiden zunächst, denn Kato geht weg aus ihrem Dorf. Die schon früher in manchen Phasen fragile Verbindung hätte nun auch reißen können, aber ihre Freundschaft stellt sich als durchhaltefähig heraus.
Iris Wolff besitzt die Gabe, sehr leise und zart zu schreiben und hat dennoch oder gerade deswegen einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Nachdem mich Babel von Rebecca F. Kuang schon begeistern hat, war Yellowface ein absolutes Muss für meine Titelvorstellung im 3. Quartal.
Eine gefeierte Autorin stirbt – die einzige Zeugin: ihre scheinbar „beste Freundin“ und erfolglose Schriftstellerin, die kurzerhand das neuste Manuskript der Toten stiehlt. June redet sich ein, in Athenas Sinne zu handeln. Als sie Die letzte Front – eine Geschichte über die Heldentaten chinesischer Arbeiter im Ersten Weltkrieg – überarbeitet und veröffentlicht, feiert sie einen Riesenerfolg.
Kuangs Erzählung aus der Täterperspektive bietet einen außergewöhnlichen Einblick. Denn June rechtfertigt sich in ihren inneren Monologen immer wieder vor moralischen Fragen und manövriert sich damit in die Opfer-Rolle.
Yellowface ist ein fesselnder Roman, der die Themen Rassismus, Freundschaft, geistiges Eigentum, künstlerische Freiheit und Cancel Culture gekonnt, unterhaltsam und bisweilen skurril aufgreift und gleichzeitig einen Blick hinter die Kulissen der Buchbranche erlaubt.
Maria Voßhagen macht ihren Master in Deutscher Literatur und werkelt normalerweise nebenbei beim Digitalteam der Büchergilde mit, macht aber gerade einen kleinen Ausflug in die Programmabteilung.
2. Quartal 2024
Paradise Garden ist nicht nur der Eisbecher, den sich Billie und ihre Mutter Marika am Monatsanfang leisten können, sondern steht auch für all die kleinen Freuden des Lebens, die Marika ihrer Tochter bereitet, obwohl das Geld an allen Ecken und Enden fehlt. Billie ist vierzehn, als sich das plötzlich durch den tragischen Tod der Mutter ändert.
So beginnt Billies berührende Reise ins Unbekannte auf ihrer Suche nach dem Vater.
Elena Fischer erzählt in ihrem Debüt von Verlust und Trauer und Identität, doch die Schwere der Themen wird von den liebenswerten Charakteren mühelos aufgefangen und man wird von Billies Lebensmut angesteckt. Allerdings ist dies erst der Beginn der Reise und die Rätsel der Vergangenheit haben bei mir viele Fragen offengelassen.
Insgesamt blickt der Coming-of-Age Roman mit Freude auf das Leben und hat mich milde gestimmt. Wem 22 Bahnen gefallen hat, wird auch an Paradise Garden Freude haben.
Leoni Plützke versucht, neben Ihrer Arbeit im Digitalteam ihr jährliches Leseziel zu schaffen, das von der Büchergilde und Booktubern gleichermaßen beeinflusst wird.
Die Möglichkeit von Glück scheint es im Roman von Anne Rabe für Stine kaum zu geben. Wir lesen hier vielmehr eine Geschichte von Gewalt, von Tyrannei, von nicht aufgearbeiteten Vergangenheiten.
Dabei wird die persönliche Geschichte mit der gesellschaftlichen verknüpft und macht so die Überzeugungen und den Umgang miteinander nachvollziehbar, wenn auch Lücken bleiben. Doch über all dem liegt zunächst Schweigen als dunkler Schatten. Über die Vergangenheit wird nicht gesprochen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, wird nicht hinterfragt. Und weil Stine die Vergangenheit und dadurch die Gegenwart nicht versteht, kommt es ihr vor, als würde mit ihr etwas nicht stimmen.
Die verschwindend kleine Möglichkeit, ihr Glück zu finden, besteht für sie also in einer Spurensuche, im Versuch zu begreifen und im Kontaktabbruch zu den Menschen, die ihr das Glück versagen.
Den Roman halte ich für unbedingt lesenswert. Es heißt, die Vergangenheit ist vergangen. Das ist richtig, aber sie hat immer Einfluss auf unsere Gegenwart. Das ist mir hier wieder einmal sehr bewusst geworden.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Ich gehöre einer Generation an, deren Eltern sagten: „Ihr sollt es mal besser haben als wir.“ Und dieses Fortschrittsversprechen hat sich für viele Menschen in unserer Gesellschaft in einem günstigen historischen Zeitfenster auch erfüllt. Nun stehen wir aber vor der Situation, in der die Zukunft aufgrund dramatischer politischer, technologischer, ökonomischer und ökologischer Veränderungen als Bedrohung oder zumindest als sehr ungewiss wahrgenommen wird.
Aber was bedeutet Zukunft überhaupt und können wir als Individuum, aber auch als Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen aktiv darauf Einfluss nehmen? In Ihrem klugen Buch bejaht Gaub diese Frage. „Zukunft wird umso wahrscheinlicher, je mehr man sie sich vorstellt“, so schreibt sie. Nur darf man nicht bei der Vorstellung stehen bleiben, sondern muss darüber hinaus mit Leidenschaft, Mut und Kreativität ins Handeln kommen. Der Mensch ist zukunftsfähig. Diese Zuversicht macht das Buch für mich so lesenswert.
Michael Lübbeckes Profession ist das betriebliche Finanzwesen, aber sein Interesse endet nicht bei Buchhaltung und Zahlen, sondern schließt kluge Bücher und anspruchsvolle Literatur mit ein.
Beim Schreiben dieses Textes habe ich stärker denn je das Gefühl, mein Spiegel, der, statt an der Wand zu hängen, seit zehn Monaten auf dem Boden steht, starrt mich an. Und ich denke mir, dass auch ein Lars in mir steckt. Ein Lars, der gerne aufschiebt, vergisst – oder nicht hinsieht, weil alles zu viel ist.
Doch dann, am 31. Dezember, zu dem uns Nele Pollatschek im Roman Kleine Probleme mitnimmt, will Lars endlich sein ganzes Leben aufräumen. Er hat eine To-do-Liste, die ihm helfen soll, Ordnung ins Chaos zu bringen. Nicht sein erster Versuch, aber heute, denkt er sich, ist der Tag, an dem er es endlich schafft. Für seine Kinder, für seine Partnerin und nicht zuletzt für sich selbst.
Lars‘ innerer Monolog hat Traurigkeit und Verzweiflung, aber auch ganz viel Hoffnung, Liebe und Humor. Ich habe das Buch unfassbar gerne gelesen, weil es Spaß macht, zum Mitfühlen einlädt und weil es einen dazu bewegt, sich selbst den Spiegel vorzuhalten (und ihn vielleicht endlich mal aufzuhängen).
Maria Voßhagen, arbeitet als Werkstudentin im Online-Marketing und muss sich jetzt dringend Hammer und Nagel besorgen.
1. Quartal 2024
Ich gebe zu, ich war immer schon ein großer Fan von Balladen. Die Recherche für DIE BALLADE war darum von Anfang an ein Mordsspaß. Im Team mit Kristin Rampelt und dem Autor Eckhart Nickel war dann kein Halten mehr. Innerhalb kurzer Zeit entstand ein riesiges Textkonvolut – aus Klassikern, neueren Balladentexten, Songtexten –, das es zu kürzen galt (nicht einfach), damit die phantastischen Bilder von Franziska Neubert, auf ihre Weise ebenfalls Balladen, gebührend Platz finden. Ob Ingeborg Bachmanns Das Spiel ist aus oder Robert Gernhardts Ach: Die Texte verzaubern, rütteln auf, berühren, sooft man sie auch liest; die Bild-Balladen nicht minder. Jetzt – nach eineinhalb Jahren – ist dieser Prachtband fertig, in den Eckhart Nickel äußerst vergnüglich einführt. Und er richtet sich genauso an Fans von Schiller, Heine oder Kästner wie an jene von Falco, Dota Kehr oder AnnenMayKantereit. Das Beste für die kalte Jahreszeit: rauf aufs Sofa und Abtauchen in ein Buch voller dramatischer Geschichten.
Corinna Huffman freut sich, dass sie seit 25 Jahren das Programm der Büchergilde machen darf und ist über das Balladenbuch ganz aus dem Häuschen.
Ausmisten, loslassen, neu sortieren, aber gleichzeitig sich an Vergessenes erinnern, sich auf das Wesentliche besinnen, das macht die Protagonistin in Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe.
Doris Knecht zeigt in ihrem Roman, dass es eine gute Sache ist mal innezuhalten, Vergangenes zu überdenken und alte Probleme oder Dinge, die man nicht mehr ändern kann, hinter sich zu lassen. Es hat alles seine Zeit, so auch die Dinge und Personen in unserem Leben, alles ist wichtig, alles beeinflusst uns, aber trotzdem kann und muss man nicht an allem festhalten. Der Roman vermittelt uns auf eindringliche Weise eigentlich bekannte Weisheiten, die wir aber doch gern immer wieder vergessen.
Und trotz der melancholischen Stimmung des Romans bleibt für mich die Essenz, dass jede Veränderung auch eine neue Chance in sich birgt und Freiheit schafft.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Kann man so existenzielle Themen wie Klimawandel und Artenvielfalt unterhaltsam darstellen? Ja, man kann. T.C. Boyle liefert mit seinem Roman Blue Skies den Beweis. Die dramatischen Veränderungen unserer Lebensgrundlagen werden hier nicht als Dystopie, sondern als alltägliche Begleiter am Beispiel einer amerikanischen Mittelstandsfamilie erzählt. Diese ist Hitze, Dürre und Waldbränden in Kalifornien oder Dauerregen, Orkanen und Überschwemmungen in Florida ausgesetzt. Sich dem entgegenzustellen, kostet Kraft und fordert persönliche Opfer. Das nimmt die Lesenden für die Protagonist:innen ein, auch wenn es bei allem Umweltbewusstsein zum Teil Skurrilitäten sind (Alkoholkonsum schon ab dem Vormittag oder die Haltung von Pythonschlangen als Haustiere), mit denen sie sich den unwirtlichen Herausforderungen stellen. Anlass auch für mich, mich zu fragen, wie der Klimawandel mein Verhalten im Alltag bereits beeinflusst (Alkohol am Morgen und Schlangen gehören übrigens nicht dazu).
Michael Lübbeckes Profession ist das betriebliche Finanzwesen, aber sein Interesse endet nicht bei Buchhaltung und Zahlen, sondern schließt kluge Bücher und anspruchsvolle Literatur mit ein.
Als ich vor ein paar Jahren allein an der neuseeländischen Westküste stand, dachte ich plötzlich: „Wenn mir hier etwas zustößt, habe ich echt ein Problem.“
Katherine, Maurice und Tommy – die Geschwister aus dem Roman Kerbholz von Carl Nixon – erleben genau diese Situation, nur tragischer als ich es mir je hätte vorstellen können. Bei einem Autounfall sterben ihre Eltern, die Kinder bleiben allein und verletzt im Wald zurück. Nach einigen Tagen werden sie von den Bewohner:innen einer einsamen Farm mitten im Nirgendwo gefunden und die drei müssen entscheiden, ob sie den Fremden vertrauen können.
Der Roman hat mich gefesselt, mit seinen malerisch-schrecklichen Beschreibungen der neuseeländischen Natur und den tiefen Einblicken in die Psyche der Kinder. Für mich war das Land immer ein kleines Paradies, für Katherine, Maurice und Tommy wird Neuseeland zur Todesfalle. Nixon schreibt über Familie, Vertrauen, Angst, Schuld, Trauer – über das Leben in all seinen Facetten. Diese Geschichte der drei Kinder allein am Ende der Welt hat mich bis zur letzten Seite nicht mehr losgelassen.
Maria Voßhagen arbeitet als Werksstudentin im Online-Marketing, war nach dem Abi in Neuseeland und vermisst Hokey-Pokey-Eis.
4. Quartal 2023
Es muss nicht immer lärmend und schnell zugehen – die Dinge ruhig anzugehen führt oftmals auch zum Ziel. Wer das noch nicht weiß, wird nach der Lektüre von Rónán Hessions Roman Leonard und Paul vielleicht einen Gang runterschalten.
Leonard und Paul gehören nicht zu denen, die überall dabei sind, die in den Augen anderer irgendwie begehrenswert sind. Scheinbar langweilig gehören sie zu den Menschen, die man erst mal entdecken muss. Sie sind unangepasst und bleiben sich selbst und ihrem Tempo treu. Sie lassen das Leben auf sich zukommen, denn das Leben passiert, ob man sich verrückt macht oder nicht.
Neben den versteckten Weisheiten ist der Roman dann auch noch so gut geschrieben, dass ich ihn immer mal zuklappen musste, um den Worten nachzuspüren, um nicht zu schnell damit fertig zu sein, um einfach mal in die Wolken zu schauen.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Es gelingt Teresa Präauer außerordentlich gut, dass ich mich beim Lesen ihres Romans tief in die Atmosphäre einer Abendgesellschaft hineinfühle, mit Menschen, die nur auf den ersten Blick erfolgreich erscheinen. Bei erlesenen Speisen und Getränken und dezenter Hintergrundmusik üben sich Gastgeberin und ihre Gäste im spielerischen Umgang miteinander, um so die vermeintliche Leichtigkeit des Lebens zu zelebrieren. Meinungen und Ansichten werden in Tischgesprächen ausgetauscht, ohne dass dahinter wahrhaftige Haltungen zum Vorschein kommen. So entlarven die wie in einem Kammerspiel auftretenden Personen im Verlauf des Abends ungewollt persönliche Schwächen und Widersprüche. Wie in einem mehrgängigen Menü serviert uns Präauer mit großem literarischem Gespür die gleiche Szenerie in verschiedenen Variationen und würzt kräftig mit einer Prise Ironie. So wächst beim Lesen mein Appetit auf dieses Buch, aus den erwähnten Musikstücken habe ich mir schon eine Playlist erstellt.
Michael Lübbeckes Profession ist das betriebliche Finanzwesen, aber sein Interesse endet nicht bei Buchhaltung und Zahlen, sondern schließt kluge Bücher und anspruchsvolle Literatur mit ein.
Diese Frage stellt Claudia Piñeiro in ihrem Roman Kathedralen. Lías Leben gerät aus den Fugen, als ihre Schwester tot aufgefunden wird, ihre Leiche brutal misshandelt. Angesichts dieses Grauens verliert Lía den Glauben an Gott. Sie bricht fast jeden Kontakt zu ihrer streng christlichen Familie ab und fängt ein neues Leben an. Die Vergangenheit vergessen kann sie aber nicht – Anas unaufgeklärter Tod verfolgt sie.
Piñeiro erzählt die Geschichte von Anas Tod aus sieben verschiedenen Perspektiven. Gesucht wird nicht einfach der oder die Täter:in, sondern Piñeiro deckt vielmehr die gesellschaftlichen und familiären Umstände auf, die diesen Tod überhaupt erst möglich gemacht haben. Für mich war Kathedralen ein besonderes Gesellschaftsportrait. Die vielfältigen Innensichten in unterschiedlichste Charaktere fügen sich zu einem Gesamtmosaik zusammen, das den tragischen Tod Anas in außergewöhnlicher Weise erörtert. Eine Lektüre, die vor jeder Form von fanatischem Glauben warnt.
Maria Voßhagen, arbeitet als Werksstudentin im Online-Marketing und freut sich, neben dem Literaturstudium auch noch Zeit für wunderbares Freizeit-Lesen zu finden.
3. Quartal 2023
Priya Guns nimmt uns in ihrem Roman Dein Taxi ist da mit auf eine rasante Fahrt entlang der gesellschaftlichen Schere. Ihre Protagonistin Damani lebt in einer nicht näher benannten Großstadt und verdient sich ihren mageren Lebensunterhalt als Taxifahrerin. Pausenlos fährt sie alleinerziehende Mütter mit schreienden Kindern zum Arzt, schnöselige Anzugträger nach wilden Partynächten nach Hause, Touristen zu ihrem nächsten Sightseeing-Event und ältere Damen zum Bingo-Spielen. Und doch türmen sich ihre unbezahlten Rechnungen. Zu allem Überfluss steht die Stadt seit Monaten wegen nicht enden wollender Demonstrationen Kopf. Die Menschen sind unzufrieden, sie wollen Veränderung. Und dann ist Damani plötzlich mittendrin, als alles eskaliert.
Priya Guns verpackt komplexe gesellschaftliche Themen so unterhaltsam, dass man nicht tiefer einsteigen muss, um Gefallen am Buch zu finden. Genauso ist es für die Lektüre nicht notwendig, den 1976 erschienenen Film „Taxi Driver“ zu kennen. Mir persönlich hat sich dadurch aber eine ganz neue Ebene im Buch eröffnet! Denn der Roman ist eine Hommage an den Film und gespickt mit unzähligen Anspielungen aber auch bewussten Abweichungen, die der näheren Betrachtung lohnen.
Sophia Naas leitet bei der Büchergilde das Digitalteam und hätte gerne diesen Allesreiniger, den Damani in Dein Taxi ist da immer im Kofferraum hat.
Percival Everett hat mit Die Bäume einen rasanten parodistischen Mystery-Thriller geschrieben, der in mir widersprüchliche Gefühle geweckt hat.
Die Geschichte geht so: In Money, Mississippi, einer Kleinstadt, in der einst einer der vielen Lynchmorde des US-amerikanischen Südens begangen wurde, wird ein Nachkomme eines am damaligen Mord Beteiligten grausam hingerichtet aufgefunden. Neben der Leiche liegt eine weitere Leiche, die die Züge von Emmett Till trägt – eben des jungen Mannes, der 1955 in Money gelyncht wurde. Das Kuriose dabei ist, dass diese Leiche auf mysteriöse Weise verschwindet, um dann beim nächsten Mord in Money wieder an Ort und Stelle zu sein. Und es bleibt nicht bei zwei Morden, es zieht immer weitere Kreise ...
Die überzeugende Kombination aus Horrorkomödie und Vergangenheitsbewältigung, die Everett in seinem Text anlegt, ruft eine atemlose Anspannung hervor: Darf man das gut finden, dass scheinbar endlich Gerechtigkeit in Form von Rachefeldzügen in den noch immer in weiten Teilen rassistischen Südstaaten einzieht? Und darf man angesichts der Gewalt dann auch noch über sehr witzige Dialoge und Situationen lachen?
Ich denke, persönliche Befindlichkeiten sind hier nicht gefragt. Gefragt ist, das grausame Kapitel des Rassismus in den USA endlich aufzuarbeiten und zu beenden. Die furchtbaren Grausamkeiten, die leider immer wieder geschehen, die fehlende Strafverfolgung und andere bestehende Ungerechtigkeiten dürfen nicht weiter hingenommen werden. Percival Everett findet hierfür einen ganz eigenen, schwarzhumorigen Ton, der Die Bäume zu einer außergewöhnlichen Lektüre macht.
Nicole Duplois versucht, sich noch mehr Zeit fürs Lesen freizuhalten und wirkt in der Herstellungsabteilung an verschiedenen Ecken und Enden mit.
Die Gräueltaten der Nazidiktatur sind hinlänglich bekannt. Dennoch lässt mich dieser eindrucksvolle Text Schattenzeit bestürzt und fassungslos zurück. Hilmes gelingt es, anhand eines Kaleidoskops des Jahres 1943, Unmenschlichkeit, Brutalität, Kriechertum, aber auch Mut und Heldenhaftigkeit spürbar werden zu lassen.
Im Mittelpunkt steht der junge, hochbegabte Pianist Karlrobert Kreiten, der wegen einer kritischen Äußerung zum Regime, die er gegenüber seiner Vermieterin macht, inhaftiert und zum Tode verurteilt wird. Eingebettet ist die Schilderung seines Schicksals in eine chronologische Darstellung von Ereignissen, in denen bekannte Personen, seien es Täter, Mitläufer oder aber Verfolgte und Opfer der damaligen Zeit, auftreten.
Die Nüchternheit, die Beiläufigkeit mit der Hilmes hier Alltägliches ausschnitthaft erzählt, trägt maßgeblich dazu bei, dass mir die Banalität und die Abgründe des Bösen wieder bewusst werden. Man erfährt, dass sich 1943 schon fast alle über die bevorstehende militärische Niederlage Nazideutschlands im Klaren waren. Dennoch gab es genügend Schergen der Machthaber, die durch gesteigerte Brutalität und Bestialität gegenüber ihren Mitmenschen das Ende des Schreckens hinauszuzögern versuchten. Somit ist dieser Text eine Mahnung an uns, sich in Gegenwart und Zukunft weiterhin leidenschaftlich für Menschlichkeit, Frieden und Freiheit einzusetzen.
Michael Lübbeckes Profession ist das betriebliche Finanzwesen, aber sein Interesse endet nicht bei Buchhaltung und Zahlen, sondern schließt kluge Bücher und anspruchsvolle Literatur mit ein.
Beim Lesen von Karine Tuils mitreißenden Roman Diese eine Entscheidung berührte mich vor allem die Menschlichkeit ihrer Charaktere: Alma, die sich als angesehene Ermittlungsrichterin in der Terrorbekämpfung mit einer unmöglichen Entscheidung konfrontiert sieht – und Alma, die auch eine gute Mutter sein will, die sich als Ehefrau verpflichtet fühlt, sich aber in einen anderen Mann verliebt. Abdeljalil, der als Kind von seinem Vater misshandelt worden ist, der sich vom französischen Staat im Stich gelassen fühlt – und Abdeljalil, der Zuflucht in der Religion sucht und seiner Frau und dem Kind eine bessere Zukunft garantieren möchte. Abdeljalil, der nur 23 Jahre alt ist.
Tuil zeigt uns Menschen zwischen Liebe und Hass, Mitgefühl und Grausamkeit, Glück und Trauer. Der Roman hat mich mitgerissen, bewegt, bedrückt und nachdenklich gestimmt. Die Autorin verhandelt wichtige Fragen unserer Zeit und schafft es, ein facettenreiches Bild zu zeichnen, in dem die komplexen Zusammenhänge zwischen radikaler Islamisierung, westlicher Arroganz und persönlichen sowie strukturellen Versagen ineinander greifen und sich verstricken.
Der Roman bietet keine Antworten. Er stellt Fragen und stellt infrage. Mich hat er ratlos und nachdenklich zurückgelassen. Dennoch – oder gerade deswegen – ist dieser Roman definitiv eine Lektüre wert.
Maria Voßhagen arbeitet als Werksstudentin im Online-Marketing und freut sich, neben dem Literaturstudium auch noch Zeit für wunderbares Freizeit-Lesen zu finden.