„Ich möchte so viel wissen …“
Das grüne Licht der Steppen ist ein literarisches Tagebuch über eine zweiwöchige Sibirienreise, die Brigitte Reimann, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der DDR, 1964 unternahm. Der persönliche, fesselnd und charmant geschriebene Bericht bietet neben zahlreichen Informationen über die Sowjetunion auch ein interessantes Selbstporträt der damals 30-Jährigen.
Im Juli 1964 reiste Brigitte Reimann mit einer Delegation des FDJ-Zentralrats zwei Wochen durch Sibirien. Über ihre Erlebnisse auf der Exkursion, die in Moskau begann und über Zelinograd, Nowosibirsk, Irkutsk und Bratsk zurück nach Moskau führte, berichtet sie in ihrem literarischen Tagebuch Das grüne Licht der Steppen. Es ist eine glückliche Zeit in ihrem Leben, mit vielen herrlichen und unvergessenen Stunden, in der sie ihr Herz an Land und Leute verliert und es ihr schwer wird, wenn sie an ihre bevorstehende Rückkehr in die DDR denkt.
Manchmal ist es, als ob man aus der Ferne schärfer sieht, als ob in einem anderen Land die eigenen Anliegen näher heranrücken …
Erfrischend, voller Wärme und Charme geschrieben, bietet dieser Reisebericht ein informatives Leseerlebnis und einen guten Einblick in die damalige Zeit, ein historisches Dokument über den real existierenden Sozialismus, aber auch ein gedankenreiches Selbstporträt Brigitte Reimanns.
Höhepunkte der Reise waren unter anderem die Besichtigung der 1957 gegründeten Sibirischen Akademie der Wissenschaften, der Universität von Nowosibirsk mit zwanzig wissenschaftlichen Instituten, die Führungen durch das Aluminium-Kombinat und Wasserkraftwerk in Irkutsk sowie die Begegnung mit dem Diplomingenieur Alexej Martschuk, der an der Entstehung des Wasserkraftwerks von Bratsk, das Mitte der 1960er-Jahre als das größte der Welt ans Netz ging, beteiligt war. Aber auch das Baden im Baikalsee und das Erblicken eines Sputniks am Abendhimmel gehörten zu ihren besonderen Erlebnissen.
Mit wachem Blick bechreibt Brigitte Reimann ihre Eindrücke, ist angetan von der großherzigen Gastfreundschaft, der Weite des Landes und der Vielzahl an Bodenschätzen, von den Feldern mit grünem Getreide und dem Vormarsch der Industrie in Sibirien, das übersetzt „Schlafendes Land“ heißt und an dessen Schlaf nun die Jugend des Landes rührt. Aufrichtig interessiert begegnet sie großartigen Menschen voller Aufbauelan unter widrigsten Bedingungen, begeistert sich für deren wissenschaftliche Leistungen, für die Förderung junger Menschen und die Bescheidenheit der Gelehrten an den Universitäten, die sich als Diener des Volkes verstehen. Aber sie hinterfragt auch Gesehenes und Erlebtes, schreibt von zu langen Mahlzeiten, während sie lieber das Land mit seiner unvergesslichen Landschaft sehen würde, von einem Nebeneinander schroffster Gegensätze, von Vergangenheit und Gegenwart, zieht Vergleiche zur DDR und berichtet von Verständigungsschwierigkeiten, zumindest bis die junge Dolmetscherin Nadja zur Delegation hinzustößt, mit der sie sich anfreundet und wunderbar über Literatur, Sozialismus und die Liebe austauschen kann.
Neben dem Reisebericht enthält Das grüne Licht der Steppen auch Fotografien von Thomas Billhardt und einen Auszug aus dem privaten Tagebuch der Schriftstellerin, der einen interessanten Blick hinter die Kulissen der Reise liefert, in dem Reimann unter anderem von einem Streit unter den Delegierten berichtet, die Reimann nicht parteilich genug fanden, ihren Rückzug von den anderen der Reisegruppe sowie das Nichtmitsingen der Arbeiterlieder kritisierten und von ihrer Angst, ihr zu verfassender Reisebericht könnte nicht den Erwartungen der anderen Delegierten entsprechen.
Das grüne Licht der Steppen ist eine interessante und beeindruckende Lektüre in frischem und warmherzigem Schreibstil von einer der bekanntesten Schriftstellerinnen der DDR, die nur neun Jahre nach dieser Reise durch Sibirien im Alter von nur 39 Jahren ihrer Krebserkrankung erlag. Eine Lektüre, die einen guten Einblick in die Sowjetunion der frühen 1960er und den dort praktizierten Sozialismus gibt und die Kunst des Sehens und Erlebens aufzeigt.
Marie Falou ist freie Texterin und Juristin. Sie liest und schreibt gern und bespricht ihre gelesenen Bücher auf ihrem Instagram-Kanal marie.falou und ihrem Blog mariefalou.com.
Die Autorin
Brigitte Reimann (1933–1973), geboren in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Sie gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der DDR. Sie starb in Berlin.
Die Herausgeberin
Julia Finkernagel arbeitet nach einer erfolgreichen Management-Laufbahn nun seit vielen Jahren als Filmemacherin und Buchautorin. Sie ist spezialisiert auf Auslandsreportagen von Osteuropa bis Zentralasien. Von diesen Begegnungen und von ihrer begeisterten Arbeit vor und hinter der Kamera erzählen Julia Finkernagels Ostwärts-Bücher, die zu Bestsellern geworden sind.