Nie die eigene Version


Mit ihrem Roman Die schönste Version findet Ruth-Maria Thomas kraftvolle Worte für eben jene Erlebnisse, die so an der Kraft zehren können. Berührend fängt sie Ängste und Wünsche der Millennials ein, reflektiert Beziehungsdynamiken und wie schwer es sein kann, sich mitzuteilen. Ein großartiges Debüt.

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„Es wird die schönste Version dieses Moments sein, vollkommen schön, wie altes Hollywood, mit Himbeerbrause.“ So heißt es noch im Prolog von Ruth-Maria Thomas Debütroman Die schönste Version in dem sich Protagonistin Jella an jene Hundstage mit ihrem Freund Yannick erinnert. Eine Erinnerung, die sie nie vergessen wird – hat sie doch den Rat ihrer Freundin Shelly beherzigt und sich diesen Moment zehn Sekunden lang angeschaut und zehn weitere die Augen geschlossen – „Ich schwör dir, du wirst diesen Moment niemals vergessen.“

Klare, zarte und wolkenlose Erinnerungen, die ruppig von der Realität überrollt werden: Jella findet sich auf dem Polizeirevier wieder. Der Grund für ihren (unfreiwilligen) Besuch: Janniks Hände um ihren Hals. Ob sie sich sicher sei, dass sie ihren Partner wegen Körperverletzung anzeigen wolle, fragt sie der Polizist ungläubig. Schließlich habe sie ihn ja auch mit der Pfeffermühle am Kopf verletzt. Das das aus reiner Verteidigung passiert sei, lässt er mal eben unter den Tisch fallen. Völlig verunsichert verlässt Jella das Revier – zurück in ihr altes Leben, in die gemeinsame Wohnung, kann sie nicht und so kehrt sie schließlich zurück in ihr altes Kinderzimmer bei ihrem alleinstehenden Vater. Doch was nun? Wie geht man mit einer solchen Situation um? Hatte sie doch vor diesem Erlebnis die perfekte Version einer Beziehung, die schönste Version eines Partners, oder? Ratlos macht sich Jella eine To-Do-Liste: Slipeinlagen kaufen, Leben in den Griff kriegen, (Yannick?). Nicht in der Lage ihre Liste abzuarbeiten, geht Jella immer wieder gedanklich erst ihre Jugend, ihr Erwachsenwerden und schließlich das Kennenlernen und die Beziehung mit Yannick durch – wie konnte es so weit kommen?

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Wir lernen Jella als Jugendliche kennen: schon damals macht sie ihren eigenen Wert von ihrer sexuellen Verwertbarkeit für Männer abhängig – schöne intime Erfahrungen macht sie kaum welche. Stets ist sie um die beste Version ihrer selbst für verschiedene Männer, die ihr im Laufe ihres Erwachsenwerdens begegnen, bemüht. Ihren Körper und ihr Aussehen versucht sie immer wieder zu optimieren und den Erwartungen ihres Gegenübers anzupassen. Doch dann lernt sie Yannick kennen. Gutaussehend, kultiviert und aus gutem Hause – die beiden kommen zusammen und was oberflächlich zunächst nach einer perfekten Beziehung aussieht, verwandelt sich schnell in eine toxische Abhängigkeit. Immer mehr zwingt Yannick Jella sein Idealbild einer Frau auf und immer mehr verschwindet die echte Jella hinter einer falschen Fassade.

Die Wolke draußen sieht aus, als wäre sie stehen geblieben. Ich starre sie an, versuche, in ihr Weiß abzutauchen, will dableiben.

Aus: Die schönste Version

Ruth-Maria Thomas zeichnet in ihrem Roman Die schönste Version die Figur einer jungen Frau, die lernt sich anzupassen, um gemocht zu werden und dabei ihre eigene Wünsche und Bedürfnisse immer wieder in Frage stellt. Mit einer klaren, schnellen und doch einfühlsamen Sprache sensibilisiert Ruth-Maria Thomas für häusliche Gewalt und Dysbalancen in Beziehungen und findet dort Worte, wo sie oft fehlen. Ungeschönt, bildreich und teils radikal lesen wir schockiert von Jellas Schicksal – ein wichtiges und kluges Buch, das auf ein weitestgehend totgeschwiegenes Thema aufmerksam macht. Und umso wichtiger, dass es Die schönste Version bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreis geschafft hat.

 

Lea-Marie Rabe arbeitet als Redakteurin und Lektorin bei der Büchergilde. Sie findet, Bücher wie Die schönste Version gibt es noch viel zu wenig.

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Die Autorin

Ruth-Maria Thomas, geboren 1993, war als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe tätig. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist Mitgründerin des erotischen Literaturmagazins Hot Topic!. 2022 war sie Finalistin des Open Mike. In ihren Texten beschäftigt sie sich immer wieder mit weiblicher Sozialisation. Zuletzt erschien ihre Kurzgeschichte Glitzer in DAS GRAMM und wie ich frau bin bei SuKuLTuR. Die schönste Version war für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert. Sie lebt in Leipzig


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