Gerechtigkeit für Lolita


Knapp 70 Jahre nach Vladimir Nabokovs Lolita räumt Lea Ruckpaul in ihrem Debütroman Bye Bye Lolita auf mit falschen Narrativen um ein junges Mädchen, das einen älteren Mann verführt: Bei ihr kann Dolores Haze selbst ihre Sicht erzählen. Ein längst überfälliges Unterfangen!

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Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie den Namen „Lolita“ hören? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie an eine sehr junge Frau mit rotem Lolli im Mund denken, die verführerisch über den Rand ihrer herzförmigen Sonnenbrille blickt. Spätestens seit Stanley Kubrick 1962 den Roman von Vladimir Nabokov (aus dem Jahr 1955) verfilmte, ist dies das gängige (pop-)kulturelle Lolita-Bild. Doch diese Vorstellung ist gegensätzlich zu der Geschichte, die Nabokov eigentlich erzählt, und der Person, die seine fiktive Figur Lolita repräsentiert. Denn Lolita ist keine junge Frau, die Humbert Humbert verführt, sondern ein zwölfjähriges Mädchen, das von ihm sexuell missbraucht wird. Dank der Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul bekommt sie in Bye Bye Lolita nun eine eigene Stimme, kann ihre Version der Geschichte schildern – und so dieses falsche Narrativ reclaimen und Gerechtigkeit für sich einfordern.

… ich kann euch meine Erinnerungen nicht ersparen, so wie auch mir nichts erspart wurde. Es gibt eine Sache, die ich nicht sein will: das Opfer eines hässlichen alten Mannes in einem Pyjama.

Aus: Bye Bye Lolita

Mit dem Abstand von gut zwei Jahrzehnten erzählt Dolores Haze, so Lolitas bürgerlicher Name, in Ruckpauls Debütroman von ihrer Odyssee mit Humbert Humbert. Wiederholt verdeutlicht die Autorin, wie jung und naiv sich Dolores verhält, die mit einer Puppe spielt, Wutanfälle bekommt, mit schmutzigen Füßen durch die Gegend rennt – eindeutig ein Kind eben und keine verführerische, frühreife Nymphe, wie Humbert Humbert behauptet. Die Autorin erzählt aber nicht nur entlang der Handlung des Originals – wie er Dolores kidnappt und ein Jahr lang mit ihr von Motel zu Motel fährt, wo er sie vergewaltigt –, sie geht auch darüber hinaus und zeigt die Folgen dieser traumatischen Kindheit auf das Leben der erwachsenen Frau.

Ihre feministische Neuerzählung besteht nicht allein darin, dass Dolores endlich ihre Perspektive schildern kann, sondern auch am Umschreiben von Dolores’ Ende: Bei Ruckpaul hat sie ihren Tod, der sie in Nabokovs Roman ereilt, nur vorgetäuscht. Man muss das Original übrigens nicht gelesen haben, um diese neue Version der Geschichte zu verstehen. Gekonnt lässt die Autorin in Bye Bye Lolita Zitate, kursiv gesetzt, aus Lolita einfließen, die die Intentionen des pädophilen Humbert Humbert und die Absurdität, Nabokovs Roman so falsch zu interpretieren, noch betonen.

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Ähnlich wie es Kamel Daoud in Der Fall Mersault mit Albert Camus’ Der Fremde getan hat und Percival Everett in James mit Huckleberry Finn von Mark Twain, nimmt sich Lea Ruckpaul mit Bye Bye Lolita eins der größten Werke der Weltliteratur vor, um die Geschichte in ein anderes Licht zu rücken. Ein Glück, immerhin ist Lolita zugleich auch eins der missverstandensten Bücher überhaupt – eigentlich unglaublich, dass die gebürtige Berlinerin die Erste ist, die sich an diese Neuerzählung wagt. Ruckpauls Roman gibt Dolores Haze endlich eine eigene Stimme und Agenda und kontextualisiert Nabokovs Werk für ein modernes Publikum neu. Ein längst überfälliges Unterfangen, das grandios gelungen ist.

 

Isabella Caldart ist freie Kulturjournalistin und Social-Media-Redakteurin mit Fokus auf kulturellen und gesellschaftlichen Themen. Gemeinsam mit dem Autor Daniel Stähr hostet sie den Podcast The Sad Millennials.

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Die Autorin

Lea Ruckpaul, geboren 1987 in Ost-Berlin, war nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ an verschiedenen Theatern als Schauspielerin tätig. Seit 2023 ist sie Ensemblemitglied des Residenztheaters München. Ihre ersten Texte entstanden für das Theater. Bye Bye Lolita ist ihr erster Roman.


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