Familienfiktionen
Caroline Peters legt mit Ein anderes Leben eine gefühlvoll-kluge Familiengeschichte voll stimmigem Humor vor. Ein gelungenes Debüt der bekannten deutschen Schauspielerin, das neugierig auf weitere Romane aus ihrer Feder macht.

Es beginnt mit einem Begräbnis. Eine namenlose Erzählerin und ihre beiden Schwestern nehmen Abschied von Peter, genannt „Bow“, der Vater einer der drei Frauen. Umrahmt von den Geschehnissen rund um den gegenwärtigen Verlust, beginnt die jüngste Tochter über ihre vor Jahren verstorbene Mutter Hanna und deren Rolle in ihrer Patchwork-Familie nachzudenken.
Hanna war Mutter, Ehefrau, Freundin. Hanna war Slawistin, Poetin, Bibliothekarin. Mit ihren drei Studienfreunden, Peter, Klaus und Roberto, verbindet sie in der Studienzeit eine enge Freundschaft. Im Laufe vieler Jahre entstehen daraus mit allen drei Männern auch Liebesbeziehungen, aus denen jeweils eine Tochter hervorgeht.
Zentral sind für die jüngste Tochter ihre Erinnerungen an das Aufwachsen im Rheinland der 1970er- und 80er-Jahre, wo sich Hanna und Peter, mittlerweile vielbeschäftigter Architekt, mit den Töchtern in einer Vorstadt niedergelassen haben. Es ist der Ort, an dem sich deutlich zeigt, was es von Hanna – wie auch von ihrer Familie – verlangt, ihren eigenen Weg zu gehen, dabei aber ebenso die an sie herangetragenen Erwartungen zu erfüllen.


Hanna liebt es, sonntagsfrüh mit Sekt im Bett zu liegen und über russische Klassiker zu schwärmen, rattert mit einer alten Ente und ihren Kindern auf dem Rücksitz durch den Ort und zur Arbeit in der Slawistik-Bibliothek. Doch sie spürt die sozialen Zwänge, wie die eine „ganz normale“ Mutter zu sein und eine freundliche Ehefrau, die Bekannte ihres Mannes bekocht. Persönlich wie auch konkret räumlich – ihr Wunsch nach einem eigenen Arbeitszimmer im Haus wird schlicht ignoriert – macht Hanna den Ansprüchen anderer Platz, braust auf oder versinkt in Traurigkeit. Bis sie sich schließlich radikal von allem befreit.
Caroline Peters, ausgezeichnet mit dem Grimme- und dem Nestroy-Preis für ihr darstellendes Spiel in Theater und Film, schreibt mit Ein anderes Leben eine vielschichtige und mitreißende Familiengeschichte. Mit interessanten Figuren zeichnet sie so eine Momentaufnahme eines Deutschlands, in dem die gelebte Praxis von Gleichberechtigung, persönlicher Freiheit und das Infragestellen gesellschaftlicher Rollen Momentum aufnahm.
Ein Fiktionspuzzle, eine Familienfiktion. Gehirne und Erinnerungen sind fahrig und löchrig wie Schweizer Käse oder die Superstringtheorie. Vielleicht brauchen fahrige Gehirne diese Fiktionen.
Zudem gelingt Peters mit diesem Roman auch ein schönes Gedankenspiel über die Ambivalenz menschlicher Erinnerungen. Woran erinnert man sich mit Sicherheit? Welche Teile der Vergangenheit steuern andere bei? Wie lange lässt sich etwas mit eindeutiger Gewissheit im Gedächtnis festhalten? Wie die Tochter Stück für Stück versucht, ein kohärentes Bild von Hanna und damit eine Art „Wahrheit“ zusammenzusetzen, ist stimmig komponiert. Behutsam entfaltet der Roman die Realisation darüber, dass Familienmitglieder letzten Endes Individuen sind, und reflektiert, wie sich Rollenverständnisse und -verhältnisse im Lauf des Lebens verändern.
Ein anderes Leben ist ein lesenswerter Roman über das Erinnern, Verstehen und Verzeihen und die komplexen Seiten von Familie.
Marlen Heislitz arbeitet bei der Büchergilde in der Unternehmenskommunikation.
Die Autorin
Caroline Peters, geboren 1971 in Mainz, zählt zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Nach einem Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Saarbrücken war sie Ensemblemitglied an den wichtigsten deutschsprachigen Theatern, unter anderem an der Berliner Schaubühne. Sie spielt in Kino und Fernsehproduktionen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. 2016 und 2018 wurde Peters zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Ein anderes Leben ist ihr Debütroman.