Endlose Sommerferien
In Das Loch entspinnt die Autorin Hiroko Oyamada eine mysteriöse Geschichte in der Abgeschiedenheit der japanischen Provinz. Ein im doppelten Sinne fantastisches Buch, das als unheimliches sowie sozialkritisches Leseerlebnis brilliert.

Ein leeres Haus, draußen schwüle Hitze und der dröhnende Gesang der Zikaden – Asahi Matsuura gewöhnt sich nur langsam an ihr neues Leben als Hausfrau. Nach dem Jobwechsel ihres Mannes hat das Ehepaar die gemeinsame Wohnung in der Stadt aufgegeben und zieht aufs Land, in ein Haus nahe den Schwiegereltern. Wirklich investiert in diesen Lebenswandel ist Asa nicht. Vielmehr sieht sie es pragmatisch: Sie kann Geld sparen und sich einen neuen Job suchen, in der sie nicht wie zuvor die ewig ausgenutzte freie Mitarbeiterin ist. Doch ihr entschleunigter Alltag, in dem sie nur von wenigen Menschen, primär von Rentnern, umgeben ist und ihren Mann Muneaki nur noch spät abends zu Gesicht bekommt, lässt sie mehr und mehr erlahmen.
All das ändert sich, als sie eines Tages ein seltsames Wesen bemerkt. Es ähnelt einem schwarzen Hund mit langen Beinen, doch ist es keiner. Sie folgt ihm und fällt plötzlich in eine schmale, tiefe Grube – ein Loch, das wie für sie gemacht scheint. Gerade so ragt ihr Kopf über den Rand hinaus, wie verwandelt fühlt sich die Welt aus dieser Perspektive an. Nach ihrer Rettung bemerkt Asa weitere Kuriositäten in ihrer Umwelt: Wieso sprengt der unnahbare Großvater ohne Unterlass den Garten? Was hat es mit der Nachbarin, ihrer Befreierin aus dem Erdloch, auf sich, die Asa über ihre Familienplanung ausfragt? Seltsam muten auch die Kinderscharen an, die am Fluss durchs hohe Gras ziehen – zu wem gehören sie an diesem dünn besiedelten Ort? Ist der etwas eigene Mann aus dem Supermarkt ein Schlüssel zur Lösung? Während sie beginnt, den Ungereimtheiten nachzuspüren, wird die Membran zu einer sonderbaren Grenzwelt dünner und dünner.
Ich fiel mit den Beinen zuerst und landete mit beiden Füßen auf dem Boden. Erstaunt blickte ich in das Schilf, das nun auf Augenhöhe stand, aber das Tier war darin verschwunden, eine Weile raschelte es noch, dann hörte ich nichts mehr.


In ihrem Roman Das Loch erzählt die japanische Autorin Hiroko Oyamada eine übernatürliche Geschichte, die sie in kleinem Setting und mit einer überschaubaren Anzahl prägnanter Figuren so schlicht wie effektiv entwickelt. Sie bemüht dafür keine Schockelemente, sondern erzeugt geschickt ein beständig wachsendes Gefühl des Unbehagens. Das alles in einer Prosa, die mit plastisch wirkenden Naturbeschreibungen und präzis gesetzten fantastischen Details beim Lesen in die Story verwickelt, wie auch die Protagonistin sich in der geisterhaften Welt verfängt.
Die Geschichte lässt sich auf verschiedenen Ebenen erschließen und mit Genuss lesen: Als eine Art wörtliches „Rabbit Hole“, in das mit Asa immer weiter vorgedrungen wird, durch Oyamadas Bezüge auf japanischen Mythen und Bräuche, aber auch als eine subtile Kritik an einem gesellschaftlichen System, in dem Frauen zugleich benachteiligt als auch mit unrealistischen Ansprüchen überfrachtet werden. Was „normal“ oder gar „natürlich“ ist und was davon abweicht, das kommt, wie in diesem klugen Buch, auf die Perspektive an.
Oyamada ist in Japan bisher durch zwei Bücher bekannt, die beide von der Kritik hochgelobt wurden. Auch in ihrem mit dem renommierten Shinchō-Preis ausgezeichneten Roman Die Fabrik (2013) probt sie Formen des Absurden und schreibt über den Mikrokosmos eines Arbeitsplatzes, der völlig sinnlose Tätigkeiten unter sich vereint. Für Das Loch erhielt Oyamada 2014 den Akutagawa-Preis, die bedeutendste Auszeichnung für japanische Autor:innen. Zehn Jahre später wurde sie endlich auch hierzulande entdeckt: Auf Deutsch erscheint die prämierte Erzählung nun in der schönen Übersetzung von Nora Bierich, die die feinen Nuancen der Geschichte glänzen lässt. Großartig, dieses interessante Stück japanischer Literatur endlich lesen zu können.
Marlen Heislitz studierte einst Japanisch und würde das Werk nun gerne auch noch im Original lesen.
Die Autorin
Hiroko Oyamada, geboren 1983 in Hiroshima, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman Kōjō (deutsch: Die Fabrik), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.
Die Übersetzerin
Nora Bierich, geboren 1958 in Berlin, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokyo studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Kenzaburō Ōe und Yukio Mishima. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.