Zwischen Erinnerung und Traum


Der Roman Unmöglicher Abschied der Literaturnobelpreisträgerin Han Kang ist wunderbar poetisch – und scheut sich nicht davor, auch dort hinzuschauen, wo es wehtut. Er erzählt von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Frauen, einem dunklen Kapitel der koreanischen Geschichte und den vielen Launen des Schnees.

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„Kannst du schnell zu mir kommen? Bring deinen Ausweis mit!“ An einem kalten Dezembermorgen bekommt Gyeongha diese ominöse Nachricht. Ihre Freundin Inseon hatte einen Unfall und liegt in einer Spezialklinik in Seoul. Gyeongha eilt zu ihr und erhält einen überraschenden Auftrag: Sie soll sich so schnell wie möglich aufmachen zu Inseons Haus auf der Insel Jeju, wo sie ihr Haustier, einen Vogel, zurückgelassen hat, der dringend gefüttert werden muss.

Direkt vom Krankenhaus – ihren Ausweis hat sie schließlich dabei – eilt Gyeongha zum Flughafen. Mitten in einem Schneesturm erreicht sie Jeju, gerade noch rechtzeitig, bevor der Flugverkehr eingestellt wird. Nur mit großer Mühe gelingt es ihr, sich zu dem abgelegenen Haus ihrer Freundin durchzuschlagen. Es ist eine schöne wie bedrohliche Landschaft aus Schnee, engen Bergstraßen und der Dunkelheit des Waldes, in der Gyeongha sich bewegt. Han Kang lässt sie mit poetischen Bildern lebendig werden. Sie beschreibt etwa, wie der Schnee kurz zu zögern scheint, bevor er verschwindet, wenn er „auf den nassen Asphalt trifft“, so „wie der Nachklang eines Musikstücks, der die Stille am Ende vorwegnimmt“. Die Autorin, die weltberühmt wurde mit ihrem Werk Die Vegetarierin und die 2024 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam, beeindruckt durch ihren zärtlichen Blick für Details, auf scheinbar Unwichtiges, der die Dinge in ein magisches, warmes Licht taucht.

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Angekommen in Inseons Haus, beginnt die eigentliche Reise, auf die der Roman seine Leser:innen mitnimmt. Während Gyeongha geschwächt ist von der Kälte und von Migräne geplagt, verschwimmt ihre Wahrnehmung immer mehr. Sie lässt ihre Gedanken schweifen, plötzlich ist Inseon bei ihr, spricht mit ihr über die Geschichte ihrer Familie, längst Totgeglaubte werden wieder lebendig, und es ist unklar: Was passiert gerade tatsächlich? Was ist Erinnerung, was Traum? Gerade diese Uneindeutigkeit ist es, mit der es Han Kang gelingt, das Thema zu greifen, das im Zentrum des Romans steht: die Massaker, bei denen in den Jahren nach der Staatsgründung 1948 Hunderttausende ermordet wurden, weil sie als kommunistische Staatsfeinde galten. Denn Fakten und klare Worte reichen nicht aus, um diese Schrecken, das historische Trauma greifbar zu machen.

Das wissen auch Inseon und Gyeongha. Sie haben selbst versucht, als Autorinnen von Büchern und Dokumentarfilmen Worte und Bilder zu finden für das, was damals geschah. Gyeongha träumt immer wieder von einem Acker voller kahler schwarzer Bäume – ein Bild für die unzähligen Toten. Auf Jeju, nicht weit von Inseons Haus entfernt, wurden 1948 mehr als 30.000 Menschen getötet und zahlreiche Dörfer niedergebrannt. Inseons Onkel verschwand damals spurlos. Die Familie konnte bis heute nicht Abschied von ihm nehmen, seine Leiche wurde nie gefunden; ob und wo er getötet wurde, wird sich nicht mehr klären lassen. Dieser unmögliche Abschied, der dem Roman seinen Titel gibt, und die vergeblichen Versuche, festzuhalten und zu verstehen, was damals geschah, werden bei Han Kang Teil einer inspirierenden persönlichen Geschichte von der Freundschaft zweier starker Frauen. Unmöglicher Abschied ist ein Roman voller unvergesslicher Bilder, der trotz seines schmerzvollen Themas einen Sinn für das Schöne bewahrt, für die Poesie des Moments.

Welch nachgerade unverfrorene Hoffnung, jemals den Schmerz abzustreifen und alle Spuren tilgen zu können, nachdem ich mich entschlossen hatte, über Folter und Völkermord zu schreiben.

Aus: Unmöglicher Abschied

Norma Schneider ist freie Journalistin, Autorin und Lektorin. Sie lebt in Frankfurt am Main.

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Die Autorin

Han Kang, geboren 1970 in Gwangju, Südkorea, ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, ihr erster Roman erschien 1994. Für ihr literarisches Schreiben wurde sie mit dem Yi-Sang-Literaturpreis, dem Today's Young Artist Award und dem Manhae Literaturpreis ausgezeichnet. 2024 erhielt Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Han lehrt derzeit Kreatives Schreiben in Seoul.


Die Übersetzerin

Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin. Für ihre Übersetzung von Bora Chungs Storys Der Fluch des Hasen wurde sie 2024 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.


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