Über die Schatten vergessener Dörfer


Yavuz Ekinci schildert in Das ferne Dorf meiner Kindheit eindringlich das Schicksal zweier Völker, denen ihre kulturelle Identität und Selbstbestimmung genommen wurde. Der über Jahrzehnte reichende Familienroman beginnt harmlos aus kindlicher Perspektive, offenbart jedoch schnell eine Geschichte von Krieg, Flucht und Vertreibung sowie der daraus resultierenden Traumata.

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Yavuz Ekinci, geboren in Batman im kurdischen Südosten der Türkei, gelingt es, sich brutal und poetisch zugleich zwei der schmerzhaftesten und gewalttätigsten Kapitel seines Heimatlandes und seiner eigenen Herkunft anzunähern. So verknüpft er den Genozid am armenischen Volk mit der Vertreibung der Kurden und Kurdinnen und beweist Mut als kurdisch-türkischer Autor, indem er die Realität durch eine dichte, bildreiche Sprache schonungslos darstellt. Als der Roman erstmalig 2012 in der Türkei erschien, war das noch möglich.

Die Worte, die an meine Lippen drängten, die Gedanken, die in mir aufblitzen, die Gebote meiner Religion, [...], all das vergrub ich schweigend in den tiefen Brunnen, zu dem mein Herz geworden war.

Inzwischen hat sich das geändert, und Ekinci, dem mittlerweile „terroristische Propaganda“ seitens der türkischen Regierung vorgeworfen wird, lebt seit Juni 2023 in Deutschland. Ein Grund mehr, den Gewinner des Haldun-Taner-Preises hierzulande zu entdecken.

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Die autofiktionale Erzählung beginnt mit der kindlichen Sicht von Rüstem, der in einem kleinen, abgelegenen kurdischen Dorf in den Bergen aufwächst. Sein älterer Bruder hat das Dorf verlassen und kämpft in einer Untergrundorganisation gegen das türkische Militär. Rüstems Großvater erzählt ihm viele Geschichten, die mit religiösen Ritualen und Aberglauben gespickt sind. Doch als der Junge in die Schule kommt, wird ihm verboten, Kurdisch zu sprechen. Und so findet die Leichtigkeit seiner Kindheit ein jähes Ende, nicht nur, weil ihm seine kulturelle Identität und Sprache genommen werden, sondern auch, weil die Familie wenig später aus dem Dorf vertrieben wird.

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Im zweiten Abschnitt des Romans liegt Rüstems Großmutter Hatice im Sterben, und in einem wuchtigen Monolog offenbart sich ihre wahre Herkunft. In Fragmenten erinnert sie sich an ihre armenische Herkunft, wie sie als Einzige ihrer Familie das Massaker an ihrem Volk überlebte und die Verluste ihrer Religion, Herkunft und Heimat ertragen musste. Ihr wurden nicht nur die Vergangenheit und ihr Name genommen, sondern auch ihre Seele. Sie verbrachte ihr Leben unter jenen, die für ihr Schicksal verantwortlich waren, und hadert damit bis zum Schluss. Nicht zuletzt deswegen wird sie im Sterben einen letzten Wunsch äußern: ein Begräbnis im armenischen Nachbardorf neben ihrem ersten Ehemann.

Der Verlust seiner Kindheit wird noch schmerzlicher, als Rüstem später rückblickend begreift, wie tief der innere Schmerz sitzt. Inzwischen erwachsen, macht er sich mit seinem Vater auf den Weg, um den Sarg der Großmutter zurück in das armenische Dorf ihrer Kindheit zu bringen. Der Weg dahin wirkt friedlich, ist jedoch gesäumt von Ruinen, Minen und Militärstützpunkten, die türkische Regierung verbietet den Zutritt.

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Aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlicher Generationen, die mit den Traumata ihrer Vergangenheit umgehen müssen, beschreibt Ekinci den Konflikt zwischen der Türkei, dem kurdischen sowie dem armenischen Volk in seiner Absurdität, Komplexität und Dauerhaftigkeit. Eine Geschichte, die lange nachhallt und aufzeigt, wie elementar Vergangenheitsbewältigung ist, das emotionale Erbe von erlittenem Unrecht und Leid nicht zu vergessen.

Aline Bär und Luise Ritter betreiben den Literaturblog Aufgeblättert mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Literatur, gesellschaftskritischen Romanen und Sachbüchern.

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Der Autor

Yavuz Ekinci, geboren 1979 in Batman, Türkei, arbeitet als Lehrer und ist Herausgeber einer Reihe zur kurdischen Exilliteratur. Für sein Prosawerk erhielt Ekinci zahlreiche Preise, darunter 2005 den Haldun-Taner-Preis und 2024 den Freedom of Thought and Expression Award des türkischen Verlegerverbands. Zuletzt erschienen die Romane Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam und Die Tränen des Propheten. In der Türkei wird Ekinci „terroristische Propaganda“ vorgeworfen. Der Autor lebt derzeit auf Einladung des PEN Berlin in Deutschland.


Der Übersetzer

Gerhard Meier, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik. Nebenbei lernte er die türkische Sprache. Seit 1986 lebt er bei Lyon, wo er literarische Werke aus dem Französischen und aus dem Türkischen überträgt. 2014 wurde er mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.


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