Die Macht der Narrative
Büchergilde Weltempfänger
Die simbabwische Schriftstellerin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga wurde mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Büchergilde traf die Autorin in Berlin zu einem Gespräch über Patriarchat, Literaturbetrieb und Simbabwe.

In unserer Reihe Büchergilde Weltempfänger erscheint Aufbrechen (vergriffen), der erste Teil Ihrer „Tambudzai“-Trilogie. Was hat es für Sie als junge Schwarze Autorin bedeutet, als das Buch 1988 erschien?
Zu diesem Zeitpunkt war das ehrlich gesagt nicht so wichtig für mich. Nachdem ich das Buch geschrieben hatte, dauerte es noch vier, fünf Jahre, bis ich einen Verlag fand. Ich hatte zu der Zeit Mühe, eine Orientierung im Leben zu finden. In den späten 1980er-Jahren war ich schon auf dem Weg nach Berlin, um Film zu studieren. An der Universität hatte ich Theaterstücke verfasst, doch außerhalb der Uni war kein Platz für diese Art von Schreiben, lange Prosa wurde abgelehnt (lacht). Also hatte ich nicht wirklich das Verlangen, mich wieder ans Schreiben von Büchern zu machen.
Als Aufbrechen veröffentlicht wurde, war es zwar recht erfolgreich, aber nicht genug, um mein Leben wirklich zu verändern. Ich war in Berlin. Niemand wusste, dass ich publizierte Schriftstellerin bin. Ich habe Film studiert, und dabei ist mir der Snobismus zwischen den verschiedenen Formen des Erzählens aufgefallen (lacht): „Wenn du Prosa schreibst, was machst du dann hier?“ Da war schon was dran. Ich musste eine andere Art des Erzählens lernen. Das war nicht leicht für jemanden, der vom Prosaschreiben kommt.
Wie haben Sie Ihren Weg zurück zur Prosa gefunden?
Ich hatte immer im Hinterkopf, dass ich die Geschichte von Tambudzai und Nyasha beenden musste, doch irgendwie war die Zeit nie reif dafür. Nach meinem Aufenthalt in Berlin ging ich zurück nach Simbabwe, und als die Lage sich dort etwas beruhigte, baute ich mir wieder eine Art Infrastruktur auf. Da stellte sich das Gefühl ein, wieder schreiben zu können. Dennoch war ich zögerlich, weil Schreiben Kraft erfordert und ich den Wert dieser Arbeit in meinem Leben noch nicht wirklich anerkannt hatte (lacht).

Denn es war unter anderem so, dass mein englischer Verlag The Women’s Press zu dieser Zeit aufgekauft wurde und mir daher nicht alle meine Tantiemen ausgezahlt wurden – für mich erhebliche Summen, die ich nie bekam. Das trug alles nicht dazu bei, mir das Gefühl zu geben, dass es sich lohnt, Prosawerke zu schreiben. In der Kreativbranche zu arbeiten und sich in diesen Kreisen zu bewegen ist überall schwierig und herausfordernd – erst recht in Simbabwe. Zumal Simbabwe immer parteiischer, repressiver und diktatorischer wurde. Wenn man keine staatlichen Verbindungen hatte, keine politisch exponierte Person war, konnte man wenig tun. Als die von mir organisierten Ausbildungsprojekte für junge Frauen, darunter auch Filmprojekte, immer weniger Anklang fanden, wurde mir klar, dass ich einen anderen Weg finden musste weiterzuarbeiten und bin so zum Schreiben zurückgekehrt (lacht). So machte ich mich daran, die Trilogie zu beenden. Und zum Glück hat es funktioniert. Aller guten Dinge sind drei!
Aber bis zur Veröffentlichung der Trilogie gab es noch weitere Hürden?
Ja, denn niemand zeigte großes Interesse an meiner Arbeit. Das änderte sich erst, als ich ein paar Auszüge auf Facebook veröffentlichte. Eine Britin afrikanischer Herkunft, Ellah Wakatama Allfrey, eine sehr einflussreiche Lektorin, sah einige der Auszüge und schrieb mir, ich solle ihr das Manuskript schicken, und wenn sie Potenzial darin sähe, könne sie mir helfen. Das war ungefähr 2014 oder 2015. Sie tat mir nur einen Gefallen, und das Manuskript durchzugehen nahm einige Zeit in Anspruch. Ich dachte nur: „Okay, vergiss es einfach, willst du wirklich noch mehr Abweisung erfahren?“ (lacht) Als ich eigentlich schon an dem Punkt war, an dem ich dachte: „Das war’s jetzt“, kontaktierte sie mich und sagte „Tsitsi, ich finde es gut! Wir werden gemeinsam daran arbeiten und ich werde dafür sorgen, dass es veröffentlicht wird.“
Ellah Wakatama Allfrey wurde für mich zu einem Medium, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Durch ihre simbabwischen Wurzeln verstand sie genau, was ich vermitteln wollte. Und sie wusste, wie man es am besten in eine Form bringt, die anderswo akzeptiert würde, ohne dass der Text das „Simbabwische“ verlieren würde. Unsere Partnerschaft wurde so zu einem großen Erfolg.

Das ist interessant, denn im Moment lässt sich ein Wandel in der Verlagskultur feststellen: Viele Personen mit Migrationshintergrund und People of Color bringen ihre Expertise und kulturelles Wissen in die Branchenprozesse ein. Ich denke, dass das langfristig die Verlagsprogramme verändern wird.
Das denke ich auch. Und es wird dazu beitragen, dass diese Art Bücher so präsentiert werden, dass sie auch für ein breites Publikum erschließbar sind. Denn wenn ich schreibe, um „gelesen zu werden“, muss ich darauf achten, wie ich weiterhin authentisch sprechen kann, das aber in einer Art und Weise tue, dass die Leute es annehmen können.
Wenn wir über die Themen wie „Damals“ und „Heute“ sprechen, zum Beispiel, wie Social Media Ihren Weg verändert haben, frage ich mich: Aufbrechen spielt in den 1960er/70er-Jahren – doch wie würde Tambudzais Geschichte jetzt aussehen, in den 2000er-Jahren vielleicht? Was wäre anders?
Nach der Unabhängigkeit Simbabwes im Jahr 1980 schien es einen Moment lang so, als würden sich die Dinge ändern und die Menschen bessere Lebenschancen bekommen, als nähme der zukünftige Staat seine Verantwortung gegenüber den Bürgern ernst. Aber das ist bereits seit einigen Jahrzehnten nicht mehr der Fall.
Die Situation hat sich zurückentwickelt. Wir hatten eine weiße Siedlerregierung, die sich nicht für die Schwarzen im Land verantwortlich sah. Jetzt haben wir eine ZANU-PF-Militärregierung, die sich den Menschen im Land gegenüber nicht verpflichtet fühlt. Aus dieser Sicht haben sich also lediglich die Amtsinhaber geändert. Aber der zugrunde liegende Wert, also die Art und Weise, die bestimmt, wie die Nation regiert wird, hat sich nicht geändert. Es geht immer noch um eine kleine Gruppe, die diese Nation zu ihrem eigenen Vorteil okkupiert.
Es geht um Macht ...
... und Ressourcen, und um Konsum und Leistung.
Daran schließt an, dass ich beim Lesen von Aufbrechen spürte, dass ein Druck auf den ProtagonistInnen lastete, egal welchen Geschlechts. Jeder und jede war auf andere Weise durch etwas belastet. Das manifestierte sich sowohl psychisch als auch physisch. Für mich war diese körperliche und auf Essen bezogene Komponente der Geschichte sehr interessant. Könnten Sie etwas darüber erzählen?
Für mich war diese Verbindung zwischen Nahrung und Körper wirklich wichtig. In Gesellschaften, in denen die Menschen am Existenzminimum leben, ist Essen von enormer Bedeutung. Es gibt Menschen, die morgens aufwachen und sich fragen müssen: „Wie komme ich an Nahrungsmittel, um den heutigen Tag zu überleben?“ Nahrung gibt uns unseren Körper, sie gibt uns unsere Energie. Ein Teil davon wird in unsere Körpermasse umgewandelt, während andere Nahrung als Energie verbrannt wird. Sie haben völlig Recht, dass jeder Charakter mit einer „Nervous Condition“ (A.d.R.: Originaltitel des Buches) kämpft. Das ist alles eine Reaktion auf ein unerträgliches Trauma, auf einen Mangel an Möglichkeiten und ein Gefühl von „Für mich gibt es nichts auf der Welt“.
Alle Protagonistinnen leiden außerdem unter Facetten patriarchaler Unterdrückung, doch sie stehen auch auf unterschiedliche Weise für den Widerstand dagegen. Tambudzais Tante Lucia zum Beispiel hat eine „Hands-on-Mentalität“ ...
Lucia hat die Einstellung, dass Macht etwas frei Verfügbares ist, also sagt sie: „Ich werde sie mir nehmen, wie immer ich kann.“ (lacht)
Was hat sich für Frauen in Simbabwe bis heute verändert? Hat sich ihre Situation auch zurückentwickelt?

Rechtlich haben sich die Dinge geändert. Auf dem Papier herrscht in Simbabwe die Gleichstellung der Geschlechter. Aber gesellschaftliche Normen verändern sich nicht unmittelbar und parallel zu rechtlichen Regelungen. Das ist ein Problem. Die herausfordernde wirtschaftliche Lage und die politische Krise, die zum Zusammenbruch der meisten sozialen Systeme führt, belasten Frauen wieder viel stärker. Wer besorgt wohl am Ende des Tages wieder Nahrung für die Familie? Ein Vater kann einfach verschwinden, eine Mutter tut dies gewöhnlicherweise nicht. Der Druck auf Frauen in Simbabwe wächst, während ihre Chancen und Möglichkeiten schrumpfen.
Ich habe das Gefühl, dass wir im Moment in einer Zeit der Rückschritte leben, mit Blick auf unsere und viele andere Gesellschaften auf der Welt.
Ja, bestimmte politische Bewegungen, wie zum Beispiel die extreme Rechte, versuchen, Boden zu gewinnen, aber es gibt auch Widerstand. Man sollte sich nicht wundern, dass sich die Angelsachsen so verhalten, wie sie es tun: Weil sie nie wirklich zugegeben haben, jegliche Art von Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. In ihren Köpfen sind sie anderen überlegen und agieren übertrieben selbstsicher ... aber das tun sie seit gut einem halben Jahrtausend. Mir fällt jedoch auf, dass es sogar in Großbritannien mehr Stimmen von Menschen afrikanischer Herkunft gibt, die anfangen zu sagen: „Nein, eigentlich ...“

Das ist eine politische und wirtschaftliche Frage, aber meiner Meinung nach auch eine,
die den kulturellen Bereich berührt. Denken wir zum Beispiel an die aktuellen Debatten um die Rückgabe afrikanischer Kunst an ihre Herkunftsländer. Solche Debatten und Aktionen sind ein kleiner Schritt zu etwas Besserem, hin zu Veränderung.
Ich stimme zu, es ist ein Anfang. Es zeigt den Beginn einer Bereitschaft, Dinge zu hinterfragen und anders zu betrachten. Ich denke, alle Anfänge sind gut – sie müssen gepflegt werden.
Es ist einfacher, aufzugeben, zynisch zu sein und zu sagen: „Naja, das wird sich nie ändern.“ Aber wir brauchen Hoffnung, um weiterzumachen.
Jeder von uns hat jeden Tag die Möglichkeit, ein Mensch zu sein, menschlich zu agieren, und es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern. Was mich angeht, betrachte ich meine Geburt als eine Begebenheit, die mir Verantwortung übertragen hat. Eine Verantwortung, die wir, glaube ich, alle übernehmen müssen. Doch manche Leute sehen ihren Weg dahin nicht. Aber wir müssen weitermachen und durch Taten und Engagement zeigen, dass diese Welt in unserer Verantwortung liegt, wo immer man sich auch befinden mag.
Narrative Texte und andere kulturelle Objekte sind eine weitere, eine wichtige Art, wie Menschen kommunizieren. Ich würde mir wünschen, dass mehr Wert darauf gelegt wird, sicherzustellen, dass verschiedene Menschen in verschiedenen Teilen der Welt Zugang zum Erzählen und auch zur Verbreitung dieser Erzählungen haben.
Denken Sie, dass Kulturgüter, seien es Kunst, Bücher, Filme oder sogar Social-Media, helfen können, „blinde Flecken“ hinsichtlich anderer Kulturen zu verringern? Welche Macht hat das geschriebene Wort oder auch Sprache in diesem Zusammenhang?
Ja, absolut. Wenn wir uns mit einem Film oder einem Text beschäftigen, erleben wir deren Narrative in unserem Inneren. Das ist natürlich auch der Grund, warum repressive Regime es Menschen unmöglich machen, ihre eigenen Geschichten zu erschaffen. Das betrifft auch die neueren digitalen Optionen. So gibt es viele Regierungen, wie auch in Simbabwe, wo die Kosten für Datentarife unerschwinglich hoch gehalten werden. Aus dem gleichen Grund: Sie wollen nicht, dass die Leute miteinander kommunizieren oder interagieren.
Narrative Texte und andere kulturelle Objekte sind eine weitere, eine wichtige Art, wie Menschen kommunizieren. Ich würde mir wünschen, dass mehr Wert darauf gelegt wird, sicherzustellen, dass verschiedene Menschen in verschiedenen Teilen der Welt Zugang zum Erzählen und auch zur Verbreitung dieser Erzählungen haben.
In diesem Jahr wurden drei sehr prominente Literaturpreise an Autoren und Autorinnen aus afrikanischen Ländern verliehen. Das sind natürlich Sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der Literaturnobelpreis ging an Abdulrazak Gurnah aus Tansania, und der Autor Mohamed Mbougar Sarr aus dem Senegal erhielt den Prix Goncourt in Frankreich. Was halten Sie davon?
Das ist sehr positiv, aber ich hoffe, dass dies keine einmaligen Ereignisse bleiben. Damit meine ich nicht, dass von jetzt an alle Literaturpreise nur an AfrikanerInnen vergeben werden müssen. (lacht)
Aber die Produktion von Erzählung, von Literatur, ist ein Prozess, der innerhalb eines Systems stattfindet. Ich hoffe also, dass dieses System sicherstellen wird, dass viele weitere dieser Erzählungen vom afrikanischen Kontinent aus produziert werden, und das auf einem ausreichend hohen Niveau, um auch für Menschen außerhalb ihres Ursprungslandes zugänglich zu sein.
Es gibt immer noch ein westliches Framing von „Afrika“ und „der afrikanischen Kultur“ – Wörter, die ich spezifisch in diesem Zusammenhang verwende – als eine homogene Einheit. Obwohl es diesbezüglich sicherlich Fortschritte gibt, habe ich das Gefühl, dass es ein langer Weg ist, um diese Sichtweise zu verändern. Wie bewerten Sie dieses Problem?
Die Art und Weise, wie der globale Norden Afrika betrachtete, war entscheidend für seine Ziele, nämlich seine eigene Entwicklung – egal, was das für die anderen Teile der Welt bedeutete. Und das sind die Strukturen, die immer noch existieren und weiterhin dafür sorgen, diese enge Perspektive beizubehalten. Um dies zu verändern, ist Arbeit erforderlich. Die Menschen müssen sich engagieren. Und wenn wir also an Strukturen denken, die vor 800 Jahren etabliert wurden, wird es einiges an Einsatz erfordern. Für mich ist es wichtig, nicht ungeduldig zu sein und integrative Wege für diesen Dialog zu finden.

Und um noch einmal auf die Kulturobjekte zurückzukommen: Es gibt heute viele verschiedene Diskussionen um solche Güter, die vor zwanzig Jahren in dieser Form nicht stattgefunden hätten. Also, für mich ist das ein Fortschritt. Denn wenn wir daran denken, wie lange diese Welt schon existiert, kann man nur sagen: „Wir sind auf einem guten Weg.“ (lacht)
Vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch, Frau Dangarembga
Vielen Dank.
Die Fragen stellte Marlen Heislitz
Dieser Titel ist vergriffen.
Die Autorin

Tsitsi Dangarembga, geboren 1959 in Mutoko im Nordosten des heutigen Simbabwe, arbeitet als Autorin und Filmemacherin. Dangarembga wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem PEN Pinter Prize, dem PEN International Award for Freedom of Expression und jüngst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (alle 2021).
Der Übersetzer
Ilija Trojanow, geboren 1956 in Sofia, ist Schriftsteller, Weltensammler, Übersetzer und Autor zahlreicher prämierter und in viele Sprachen übersetzter Bücher
Bei der Büchergilde war Trojanow Herausgeber der Reihe Weltlese. Außerdem ist er Initiator der "Weltempfänger-Bestenliste".
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Bereits erschienen
Preisträgerin 2021

Mehr zur Friedenspreisverleihung 2021 an Tsitsi Dangarembga erfahren Sie hier.