Die Schuld schläft nebenan
Mit ihrem Debütroman In ihrem Haus inszeniert Yael van der Wouden ein intensives Kammerspiel über eine verdrängte Vergangenheit, queere Liebe und die Frage nach Schuld und Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg. Atmosphärisch dicht und voller Symbolkraft erzählt sie in diesem preisgekrönten Roman, wie eine einzige Begegnung ein ganzes Leben – ein ganzes Haus – auf den Kopf stellen kann.

Es beginnt mit einer Scherbe. Ein Hase auf einer Porzellanscherbe. Die Protagonistin Isabel in Yael van der Woudens prämiertem Roman In ihrem Haus findet diese im Gemüsebeet unter den Wurzeln einer verfaulten Kürbispflanze. Überrascht platziert sie das Bruchstück, das offensichtlich zum Lieblingsservice ihrer Mutter gehört, zunächst auf dem Kaminsims, wundert sich jedoch, war dieses bisher doch vollständig gewesen.
Sie traute sich nicht, in die Tiefe zu graben, aus Angst auf etwas Spitzes oder Kantiges zu stoßen – aber da war nichts. Keine Scherben, keine Bruchstücke, keine neuen Geheimnisse, die aus der Erde ragten.
Dieser Fund markiert den Beginn einer Reihe von Ereignissen, die das geordnete Leben von Isabel, die zurückgezogen und allein im Haus ihrer verstorbenen Mutter lebt, ins Wanken bringen. Immer wieder fragt sich Isabel, wie die Scherbe in den Garten gelangen konnte, und hinterfragt immer mehr, wer vorher in dem Haus gewohnt hat. Der Fund ist Auftakt und Sinnbild für das, was folgt: Das Aufbrechen von Gewissheiten, die Entdeckung von Verdrängtem, die Schuld einer Vergangenheit, die nie wirklich vergangen war.

Wir schreiben das Jahr 1961 in der niederländischen Provinz – über die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs wird geschwiegen, während man sich um einen ruhigen Alltag bemüht. Doch als ihr Bruder Louis seine Freundin Eva mitbringt und vorübergehend bei Isabel einquartiert, gerät ihre fragile Ordnung aus den Fugen. Eva ist das genaue Gegenteil von Isabel: impulsiv, sinnlich, freudig und auch ein bisschen geheimnisvoll. Misstrauen und Fremdheit bestimmen zunächst ihr Verhältnis, doch schon bald schlägt die Spannung um in Anziehung und schließlich in eine intensive erotische Beziehung. Während weitere Gegenstände aus dem Haus verschwinden und das Haus mit seiner bewegten Geschichte beinahe selbst zum Leben erwacht, klopft die Vergangenheit an die Tür.
Mit In ihrem Haus verwebt van der Wouden eine Liebesgeschichte mit der Frage nach kollektiver Schuld der Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs gegenüber Jüdinnen und Juden: Viele Häuser – so auch jenes, in dem Isabel lebt und aufgewachsen ist – gingen nach der Deportation jüdischer Familien in „neue Hände“ über. Rückgabe, Trauer, Empathie? Meist ausgeblendet. Die Autorin führt diese Verdrängung in aller Schärfe vor, ohne den Zeigefinger zu heben – das Haus, an dem Isabel so verzweifelt festhält, wird zum Sinnbild dieser verdrängten Geschichte.

Dabei benutzt van der Wouden eine klare, dichte Sprache, die selbst an den schönsten Sommertagen eine beklemmende, teils bedrohliche Atmosphäre entstehen lässt. Sie versteht es, mit präzisen Details – ein Scherbenfund, ein Besteck, ein Tagebuch – eine Welt zu erzeugen, die von Symbolen durchzogen ist, ohne je ins Künstliche zu kippen. Das Ergebnis ist ein Kammerspiel von eindringlicher Intensität, in dem Nähe und Distanz, Schweigen und Ausbruch, Verdrängung und Begehren in einem ständigen Spannungsverhältnis stehen.

Yael van der Wouden wurde in Israel geboren und wuchs in den Niederlanden auf – in ihren bisherigen Essays setzte sie sich vor allem mit dem Jüdischsein und queerer Identität auseinander. Dass nun ihr Debütroman auf der Shortlist des Booker Prize 2024 stand als auch mit dem Women’s Prize for Fiction 2025 ausgezeichnet wurde, ist mehr als berechtigt. Es ist ein Roman, der große Fragen um Erinnerung, Verantwortung, zwischenmenschliche Beziehungen und Schuld im Mikrokosmos zweier Frauen und eines Hauses verhandelt. Die queere Liebesgeschichte, die van der Wouden erzählt, ist zugleich eine Geschichte über Unsichtbarkeit und über den Mut, aus dem Verborgenen auszubrechen – in der eigenen Biografie genauso wie in der Gesellschaft.
So ist In ihrem Haus nicht nur ein literarisch brillantes Debüt mit ebenso zarten wie bedrohlichen Szenen, sondern ein Werk von seltener Intensität, das uns nachdenklich stimmt – nicht nur beim Fund der nächsten Scherbe.
Lea-Marie Rabe ist Redakteurin des Büchergilde-Magazins und Lektorin und hat diesen tollen Fund für die Buchgemeinschaft gemacht.
Die Autorin
Yael van der Wouden, geboren 1987 in Tel Aviv-Jaffa, ist Schriftstellerin und Dozentin im niederländischen Utrecht und lehrt Kreatives Schreiben und Vergleichende Literaturwissenschaft. Für ihre Kurzgeschichten und Essays, die sich mit Jüdischsein und queerer Identität auseinandersetzen, erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Die Übersetzerin
Stefanie Ochel übersetzt Literatur aus dem Englischen und Niederländischen. Sie lebt in Berlin.