Der unfassbar schöne Tote
Mit Wie ein Hauch im Wind schrieb die schottische Autorin Josephine Tey einen klassischen „Whodunnit“ über eine von Intellektuellen Londons aufgesuchte Künstlerkolonie, der auch 75 Jahre nach der Erstveröfffentlichung großen Spaß bei der Lektüre macht.

Vorsicht, die Künstler:innen kommen! Die Bewohner:innen von Salcott St Mary, einem Ort in der Nähe von London, haben sich längst daran gewöhnt, dass sich die von der Hauptstadt gelangweilte Bohème ihr Dorf als neues Zuhause ausgesucht hat: Ein Balletttänzer, der an seinen früheren Ruhm anzuknüpfen versucht; ein Schriftsteller, der ein Kind nach dem anderen in die Welt setzt und stets schlechte Laune hat; ein Dramatiker mit Starallüren, ein hochnäsiger Radiomoderator und eine Bestsellerautorin schwülstiger Frauenromane bilden das tableau vivant des Kriminalromans Wie ein Hauch im Wind von Josephine Tey.

Der Alltag aus Sticheleien, Streit und Neid verläuft wie gewohnt, als eines Tages der US-amerikanische Starfotograf und überirdisch gut aussehende Leslie Searle in das Dorf kommt, sofort allen den Kopf verdreht – und kurz darauf spurlos verschwindet. Doch seine Leiche wird nicht gefunden. Teys Inspektor Alan Grant wird auf den Fall angesetzt, muss sich im Dorf aber erst einmal einen Weg durch das Dickicht von Rivalitäten und Eifersucht unter den Kunstschaffenden bahnen, bevor er in seinen Ermittlungen auch nur einen Schritt vorankommt. Erschwerend kommt hinzu: Fast jede Künstlerin und jeder Künstler hätte ein Motiv gehabt, den schönen Leslie Searle zu töten – und natürlich hat keiner von ihnen ein Alibi.
Josephine Tey, die diesen Namen als Pseudonym benutzte und eigentlich Elizabeth MacKintosh hieß, wurde 1896 im schottischen Inverness geboren. Über ihr Privatleben ist wenig bekannt, sie trat nicht öffentlich auf und gab keine Interviews – und war damit das komplette Gegenteil der aufmerksamkeitsheischenden Kunstschaffenden in ihrem Roman.

Wie ein Hauch im Wind erschien 1950 in England, die Übersetzung ins Deutsche erfolgte erst 1992. Der Roman ist, neben dem roten Faden des klassischen Kriminalfalls, ein überzeugendes Sittenbild der unmittelbaren Nachkriegszeit in Großbritannien: Die Zeiten des Mangels sind vorbei, nun herrscht die Vergnügungssucht vor, während die Lust an Klatsch und Tratsch unverändert groß geblieben ist. Tey scheut dabei nicht vor damals noch brisanten Themen wie Homosexualität und ausgefallenen sexuellen Vorlieben zurück: Subtil werden sie angedeutet, denn noch lange nicht sind sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
‚Wer ist dieser schöne Mann?‘, fragte sie und blickte sich noch einmal um, als sie zur Treppe gingen.
Josephine Tey beschreibt mit ihrer spitzen und sehr humorvollen Feder das Künstlerdorf als einen brodelnden Mikrokosmos aus unterschiedlichen Lebensentwürfen, Werten und Ansichten, der durch das Verschwinden des Fotografen einen empfindlichen Riss bekommt – und nach der Auflösung des Falls trotzdem so weitergeht wie vorher. Wie ein Hauch im Wind ist ein ebenso intelligent erzählter wie witziger Klassiker der Kriminalliteratur, den es unbedingt wiederzuentdecken gilt!
Julia Schmitz arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Bücher sind für sie ein Grundnahrungsmittel.
Die Autorin
Josephine Tey ist das Pseudonym der schottischen Autorin Elizabeth MacKintosh (1896–1952), die vor allem für ihre Kriminalromane bekannt geworden ist. Mit dem Schreiben begann sie, nachdem sie ihre Arbeit als Sportlehrerin aufgeben musste, um ihre krebskranke Mutter zu pflegen. Tey lebte sehr zurückgezogen, mied Interviews und öffentliche Auftritte. Sie starb im Alter von 55 Jahren während einer Reise nach London.
Der Übersetzer
Manfred Allié, geboren 1955 in Marburg, arbeitet seit mehr als dreißig Jahren als Literaturübersetzer. 2006 wurde er mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Er übertrug Werke von Jane Austen, Patrick Leigh Fermor, Yann Martel, Richard Powers, Joseph O’Connor und Patricia Highsmith ins Deutsche. Allié lebt in der Eifel.