Eine Annäherung auf Umwegen
Friedländer, Behrend, Ritschel und Quandt: Die Frau, die wir heute als Magda Goebbels kennen, trug mehrere Namen, ehe sie an der Seite von Joseph Goebbels zur „Ersten Frau im Reich“ aufstieg. Nora Bossong zeichnet in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz ihren Werdegang nach – und das aus ungewöhnlicher Perspektive.
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Wer war Magda Goebbels? Viele Sachbücher und Filme haben sich mit dieser Frage beschäftigt – und auch Nora Bossong geht in ihrem Roman Reichskanzlerplatz dieser Frage nach. Die renommierte Schriftstellerin, die sich in ihrem vielseitigen Werk von Sachbüchern über Erzählungen bis hin zu Gedichten immer wieder mit Fragen um Politik, Macht und Anpassung beschäftigt, wählt für ihren Roman allerdings einen ungewöhnlichen Erzählansatz.
Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben, sagte Helmut, was weiß ich, was sie in Wirklichkeit ist. Vermutlich kann sie das nicht mal selbst sagen.
Denn anstatt Magda Goebbels selbst in den Mittelpunkt von Reichskanzlerplatz zu stellen, nähert sie sich der historischen Figur auf indirekte Weise an, und zwar durch die Ich-Erzählung des fiktiven Hans. Jener besucht seinen Schulfreund Hellmut Quandt in der Berliner Familienvilla und ist sofort begeistert von dessen Stiefmutter, die er zunächst als Madame Quandt kennenlernt.
Mit ihren neunzehn Jahren nur wenig älter als die beiden Jungen, übt Magda Quandt, so ihr damaliger Name, auf den ersten Blick eine große Faszination auf Hans aus. Es ist eine Faszination, die selbst über den tragischen Tod von Hellmut kurze Zeit später hinaus Bestand haben wird. Hans wird, obwohl ihn Männer eigentlich deutlich mehr interessieren, kurzzeitig sogar zu ihrem Liebhaber.
Nach ihrer Scheidung besucht Hans Magda in ihrer neuen Wohnung am Reichskanzlerplatz. Dort geht nicht nur er, sondern auch bald die nationalsozialistische Elite ein und aus. Vor allem der Propagandaminister Joseph Goebbels fasziniert Magda. Es ist ein Umgang, der für eine Entfremdung zwischen Hans und Magda sorgt.
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Während Hans als Diplomat im NS-Staat wegen seiner Homosexualität zunehmend Probleme bekommt, steigt Madame Quandt in ebenjenem Regime in immer höhere Positionen auf, bis hin zur Ehe mit Joseph Goebbels. Als „Erste Frau im Reich“ wird Magda Goebbels zum Idealbild der deutschen Frau. Ein mehr als zweifelhaftes Vorbild, töten doch sie und ihr Ehemann am Ende des Zweiten Weltkriegs eigenhändig ihre sechs Kinder, bevor sie selbst Suizid begehen.
Will man eine historisch dermaßen problematische Figur wie Magda Goebbels fiktionalisieren, gibt es zahlreiche Fallstricke. Neben den vielfach behandelten biografischen Wegmarken birgt eine romanhafte Umschreibung einer der zentralen Gestalten des „Dritten Reichs“ die Gefahr, eine prominente Figur des nationalsozialistischen Regimes eventuell zu „menschlich“ zu zeichnen und möglicherweise sogar Mitgefühl und Verständnis für ihre Taten zu wecken.
Nora Bossong jedoch umgeht solche Fallstricke in ihrem Roman Reichskanzlerplatz geschickt. Dank des Blicks auf Magda Goebbels durch die Augen von Hans erzählt sie nur indirekt von dieser Frau, der dadurch in all ihrem Tun immer etwas Opakes und wenig Konkretes anhaftet.
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Aufbauend auf historischen Tatsachen zeichnet Reichskanzlerplatz die vielen Häutungen der Magda Goebbels nach. Verschiedene Nachnamen, Konfessionen und Ehepartner bis hin zum Aufstieg in die Elite Nazideutschlands kennzeichnen dieses Leben, dem Nora Bossong bis wenige Monate vor Goebbels‘ Tod ins Jahr 1944 folgt.
Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Autorin gelingt mit Reichskanzlerplatz ein packender Roman über Anpassung und Selbstverleugnung zur Zeit des Nationalsozialismus, der besonders durch seine Erzählweise herausragt und der vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert war.
Marius Müller lebt, liest und schreibt in Augsburg. Das Ergebnis dieses Tuns kann man auf seinem Blog Buch-Haltung nachlesen.
Die Autorin
Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, schreibt Lyrik, Romane und Essays, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, zuletzt mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis. Sie lebt in Berlin.