Welcher Lemming wollen Sie sein?
Autorin Solmaz Khorsand im Interview mit der Büchergilde
Die österreichische Journalistin und Autorin Solmaz Khorsand analysiert in ihrem Buch untertan, welche Machtstrukturen unsere Gesellschaft bestimmen und wie wir uns als Individuum positionieren (können).
Liebe Frau Khorsand, mit welcher Motivation sind Sie dieses Schreibprojekt angegangen?
Das Thema »Mitläufertum« begleitet mich seit meiner Kindheit. Schon im Kindergarten und in der Volksschule waren mir Gruppen etwas suspekt. Ich habe nicht verstanden, warum man sein Ich den Wünschen anderer – aus Angst, ausgeschlossen zu werden – unterordnen sollte. Später hat es mich dann umgetrieben, wie eine Gesellschaft tickt, deren autochthoner Teil fast ausschließlich aus Nachkommen von Tätern und Ermöglicherinnen des NS-Systems besteht – und wie wenig sie selbst diese Tatsache umtreibt, gerade in Österreich. Dass sie viel zu selten den eigenen Anpassungstrieb hinterfragt haben, der allen Menschen gemein ist, und nicht begreifen (wollen), dass ein Zuviel an Anpassung das eigene Menschsein neutralisieren kann. Es geht natürlich auch um die Frage der Eigenverantwortung. Mich haben nie die vermeintlichen Anführer gefährlicher Bewegungen interessiert, immer mehr jene, die sie mit ihrer Unterstützung, ihrem Jubel, aber eben auch ihrem Schweigen und ihrer Anpassung dazu gemacht haben.
Wie sieht »Untertan-« oder »Rebellisch-« Sein in konkreten alltäglichen Handlungen aus? Welche Formen dieses Phänomens gibt es?
Anpassung ist per se weder gut noch schlecht. Sie passiert und sie kann verschiedene Formen annehmen. Und das kann unterschiedlich interpretiert werden. Etwa kann ich mich am Arbeitsplatz den Forderungen eines Vorgesetzten beugen, die ich für dumm halte, weil ich so im Betrieb aufsteigen möchte. Dieser Opportunismus kann nun als Unterwerfung interpretiert werden, genauso aber auch als Rebellion, weil ich mich weigere, mich mit einer bisherigen Situation zufriedenzugeben – und »dank« dieser selbstverleugnenden Anpassung mich in einem höheren Status zu unterwerfen. In diesem Zusammenhang war es mir wichtig, das Phänomen des »Passings« aufzugreifen. Das bedeutet, aus seiner sozialen Identität auszubrechen. Das können z.B. Frauen sein, die sich als Männer ausgeben, um beruflich weiterzukommen oder ein queeres Leben führen zu können. Das können aber auch Personen sein wie der französische Schriftsteller Édouard Louis, der in seinen autofiktionalen Werken beschreibt, wie er sich dermaßen angepasst hat – sein Lachen, sein Niesen, seinen Haaransatz, seinen Dialekt, seinen Namen –, um als Angehöriger der Unterschicht in die französische Elite aufzusteigen. Das sind für mich »rebellische Lemminge«, Deserteure ihres Schicksals.
»Gruppenzwang«, das war in meiner Schulzeit so ein geflügeltes Wort, wurde teils scherzhaft verwendet, obwohl es oft ganz reale Konsequenzen hat. Welche Dynamiken verbergen sich Ihrer Erfahrung nach dahinter?
Es heißt ja oft, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das sich nach Zugehörigkeit und Nähe sehnt. Insofern gibt es auch eine Form der Sehnsucht, einer Gruppe anzugehören. Bloß in der Gruppe verändert sich das Individuum und ordnet – als kooperatives Wesen – in der Regel seine Bedürfnisse den Gruppenbedürfnissen unter. Gruppendynamiker sagen, dass ein Großteil von plus/minus 70 % das tut und auch seine Eigenverantwortung an die Gruppe abgibt. Für die Gruppendynamik ist das positiv, weil dieses Verhalten beweist, dass die Gruppe funktionsfähig ist, und die »innere Synchronisation« auf einen Arbeitsauftrag Wirkung zeigt. Worum es sich bei diesem Arbeitsauftrag handelt, das ist dann die Frage: Bauen wir gemeinsam Straßen oder foltern wir gemeinsam Menschen?
Sie erläutern nicht nur anhand von Beispielen aus Kriegs- und Konfliktzeiten, sondern auch anhand einer eskalierenden Kunstperformance, wie im Grunde jeder Mensch zu einem Mitläufer/einer Mitläuferin werden kann. Woran liegt es, ob wir uns anpassen oder Widerstand leisten?
Da ist es wichtig zu betonen, dass niemand als Mitläufer oder Widerstandskämpferin geboren wird. Momente der Anpassung wechseln sich mit Momenten von Dissens ab. Die Frage ist da immer, ob die Möglichkeiten und die Freiräume dafür gegeben sind – und ob man bereit ist, diese Freiräume als solche zu sehen und zu nutzen. Bereits ein Krankenstand kann etwa in manchen Situationen als rebellischer Akt empfunden werden.
In welcher Verbindung steht das mit dem gesellschaftlichen Bild von Leistung und Erfolg?
Unsere Ansprüche an Leistungen und Erfolg machen uns meines Erachtens sehr stark zu Lemmingen. Gerade wir, die nicht um ihr Überleben in Regimen kämpfen müssen, sondern in noch friedlichen, stabilen und reichen Demokratien leben, unterwerfen uns am Arbeitsplatz erbärmlich oft. Denn hier geht es für uns um alles: Einkommen, Status, Prestige, Sicherheit, Lebenssinn. Die Argumentationslinien mancher für ihre Anpassung, ja Unterwerfung am Arbeitsplatz sind absurderweise oft vergleichbar mit jenen von Menschen, die unter vorgehaltener Waffe ihr Dasein in Diktaturen fristen: »Mir waren die Hände gebunden, ich konnte nicht anders. Man hat es mir befohlen.«
Geschichtsaufarbeitung, Reflexion oder Erfahrungsaustausch haben das Potenzial, Veränderungen und Umdenken anzustoßen. Wie schätzen Sie dieses ein?
Ich würde sagen, dass das der erste zaghafte Schritt ist. Der zweite viel wesentlichere Schritt ist, dass man Freiräume erkennt, die einem aufzeigen, dass mehr Dissens drinnen ist, als man glaubt. Und der dritte, dass man das tatsächlich auch erfährt. Wenn einmal die Erfahrung gemacht wurde, dass ein »Nein« nicht den Weltuntergang bedeutet, sondern möglich ist, dann wagt man es noch einmal und noch einmal.
Sie erläutern, wie Menschen in sozialer Interaktion ambivalent, teils widersprüchlich agieren. Wieso fordert man dennoch oft Stringenz ein und wie kann diese aussehen?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob man so oft Stringenz einfordert. Viel eher ist es so, dass die Menschen es nach Stringenz aussehen lassen wollen, indem sie ihr Verhalten schönreden, um nicht in diese kognitive Dissonanz von eigenen Ansprüchen und gegenteiligem Verhalten zu kommen. Ich begehre auf der Straße auf gegen Missstände, aber in den eigenen vier Wänden, in der Beziehung, am Arbeitsplatz bin ich sehr still. Ich denke, Stringenz muss gar nicht gegeben sein, viel eher das Eingeständnis, dass sie eben nicht gegeben ist und wir uns manchmal nicht unseren Ansprüchen entsprechend verhalten.
Nach Pathos (2021) ist untertan Ihre zweite Gesellschaftsanalyse in Buchform. Welches Thema gehen Sie als Nächstes an?
Derzeit interessiert mich alles, was beweist, dass der Mensch zivilisierter ist, als man glauben möchte. Da überlege ich als mäanderndes Überthema die »Reparatur«, nach dem Motto: Schaffen und zerstören können wir, aber das Menschsein, Kreativität und die wahre Zivilisation zeigt sich in der Reparatur des Kaputten. Und wenn ich ganz mutig bin, würde ich mich auch gerne in Zukunft am fiktionalen Schreiben probieren – aber davor habe ich sehr großen Respekt.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Khorsand!
Die Fragen stellte Marlen Heislitz.
Die Autorin
Solmaz Khorsand, geboren 1985, ist Journalistin, Podcasterin, Moderatorin und Buchautorin. Khorsands Arbeiten reichen von Essays zur österreichischen Innenpolitik über Reportagen aus Belarus bis hin zu Wahlberichterstattung aus dem Iran. Für ihre Arbeit wurde sie u. a. mit dem Wiener Journalistinnenpreis 2018 ausgezeichnet.
Die Herausgeberin
Karin Hutflötz ist promovierte Philosophin, tätig an der Katholischen Universität in Eichstätt und freiberuflich als Coach und Autorin in München. Sie lehrt und forscht zu Fragen des gesellschaftlichen Wandels, zur Persönlichkeitsbildung und zu Grundsatzfragen menschlicher Entwicklung. Seit 2019 ist sie Herausgeberin der Edition Zeitkritik.