Gut zu wissen, woher man kommt
Wie kann ich wissen, wohin ich gehöre, wenn ich mich sowohl in der Stadt als auch auf dem Land zu Hause fühle? In ihrem Erstlingsroman Mühlensommer kehrt die Mittelfränkin Martina Bogdahn auf den Bauernhof zurück, dem sie eine besondere Kindheit verdankt. Mit viel Humor und scharfem Auge veranschaulicht sie unterhaltsam, was wir gewinnen, wenn wir uns erinnern.
Ein Unfall ihres Vaters reißt Maria aus ihrem stressigen Stadtleben und bringt sie zurück auf den Bauernhof ihrer Kindheit. Erschöpft von Hitze und Autofahrt, steigt sie aus ihrem Wagen und findet ihre demente Großmutter Äpfel schälend auf der Hausbank vor. Eine Katze streicht ihr um die Beine, Hühner suchen zwischen den Pflastersteinen nach Futter.
Doch die Idylle hält nicht lange an. Eine Arbeitsliste, die ihr die Mutter auf dem Hof hinterlassen hat, bevor sie zum Krankenhaus aufgebrochen war, bringt sie gleich wieder auf Trab. Sie krempelt die Ärmel hoch, öffnet die Tür des Schweinestalls und wird unversehens vom Gestank erschlagen. Sie weiß, dass der sich sofort bis in ihre Haarspitzen einnisten wird. Am Abend betritt sie ihr seit Jahrzehnten unverändert gebliebenes Kinderzimmer. Gedankenverloren sieht sie sich um und findet eine von ihrem Bruder gebastelte Schneekugel, in die er den gesamten Hof in Miniaturform eingepasst hat. Maria lässt die Styroporflocken über Haus, Ställe, Scheune und Mühle rieseln und beginnt, sich in das Mädchen zurückzuversetzen, das sie einmal gewesen ist.
Mühlensommer ist Martina Bogdahns erster Roman. Die Autorin, die hauptberuflich als Fotografin tätig ist, kennt das Bauernleben aus eigener Erfahrung und nimmt uns beim Lesen fest an die Hand. In poetischen Schilderungen schenkt sie uns nicht nur szenisch verdichtete Bilder, die im besten Sinne an Bullerbü erinnern, sondern führt uns zugleich die unbarmherzige Seite dieses einzwängenden Daseins vor Augen. Ihre Erzählerin Bogdahn katapultiert Maria zurück in die Welt zwischen Stall und Feld, Schule und Kirche, und sie konfrontiert die 10-Jährige mit dem traditionsbewussten katholischen Landleben.
Maria, ihr Bruder Thomas und der gewitzte Onkel Herbert lieben Streiche, trotzdem lernen sie alle, sich dem unbedingten Vorrang der Regeln des Hofs unterzuordnen. Sie wissen, dass das Vieh versorgt, aufgezogen und geschlachtet, das Heu geschwadert, das Brot gebacken, guter Hopfen gepflegt, geerntet und in anstrengender Knochenarbeit sortiert werden muss. Sommerferien gibt es keine, Meer und Berge haben sie ebenso wenig wie ihre Vorfahren je gesehen, und überhaupt reicht das Geld weder für Playmobil noch McDonald’s. Dem Bauernmädel ist der Platz in der Gesellschaft vorherbestimmt. Doch eines Tages, so schwört sich Maria beim Schulwechsel aufs Gymnasium, will sie „zu den Besseren“ gehören. Sie wird ihr Ziel erreichen. Trotzdem bleibt die „Hofinsel“, um die beständig der Bach plätschert, für die Städterin ein Sehnsuchtsort.
Mit einem Mal wird mir bewusst, wie wunderbar ruhig es hier jetzt ist. Was wohl wäre, wenn ich jeden Abend hier sitzen könnte. Würde mir die Ruhe guttun? Würde sie mich erdrücken? (…) Und so kreisen meine Gedanken. Und kreisen. Steigen schließlich gen Himmel und verlieren sich im Nachtblau.
Eben diese Sehnsucht weckt der Roman Mühlensommer auch beim Lesen. Fasziniert folgt man Bogdahn auf ihrer Reise in die Vergangenheit und staunt über eine vielen so unbekannte Kindheit, die noch bis in die 1980er-Jahre hinein in der landwirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft Familie aufzugehen hatte. Wie sich die Erzählerin Maria daran abarbeitet, spiegeln ihre familiären Auseinandersetzungen ebenso wider wie die intensiv erlebten Momente und kleinen Freiheiten, die nur das Landleben bietet. Wie aber wäre es heute auf dem Mühlenhof? Würde die Ruhe sie erdrücken, oder wäre das Arbeiten im Einklang mit der Natur eine Art Erfüllung verdrängter Wünsche? Maria wird sich entscheiden müssen, denn ein Generationenwechsel steht an. Sie bei diesem Prozess zu begleiten macht Spaß. Denn der Roman Mühlensommer ist eine inspirierend komponierte, spannende Lektüre – für den Sommer, den Winter und für alle, denen die Stadt nicht alles ist.
Ute Süßbrich streift in ihrer Freizeit gern durch Museen; auf ihren Wahrnehmungsspaziergängen skizziert und notiert sie ihre Eindrücke und Inspirationen in: kunstundkaffeeblog.wordpress.com.
Die Autorin
Martina Bogdahn, geboren 1976 in Weißenburg, ist auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen und hat in Nürnberg Kommunikationsdesign studiert. Sie lebt und arbeitet als Fotografin in München. So oft sie kann, backt sie in der Mühlenbäckerei ihrer Eltern nach alter Tradition Holzofenbrot.