Es geht auch ohne Männer
Wie stark werden Frauen von ihren Müttern, Großmüttern und Urgroßmüttern geprägt? In Bitternis erzählt die polnische Autorin Joanna Bator die Geschichte von vier Generationen im Schatten der wechselvollen Geschichte Niederschlesiens.

„Letzten Herbst habe ich mir in einem niederschlesischen Dorf ein hundert Jahre altes Haus gekauft“, lautet der erste Satz des 800 Seiten starken Romans Bitternis der polnischen Schriftstellerin Joanna Bator, mit dem die Lesenden direkt in die Geschichte eintauchen. Dieses erzählende Ich heißt Kalina Serce, der Ort heißt seit Ende des Zweiten Weltkriegs Sokołowsko und war zuvor unter dem deutschen Namen Görbersdorf international bekannt: Dort befand sich einst das weltweit erste Sanatorium für Tuberkuloseerkrankte.
Der Einband des Romans ‚Bitternis‘ von Joanna Bator, gestaltet von der herausragenden Künstlerin Franziska Neubert, ist ein wahres Meisterwerk. Die orangefarbene Prägung, das Lesebändchen, die Kapitalbänder und das Vorsatzpapier harmonieren perfekt miteinander. Das Motiv und die Struktur der Grafik werden durch den Gewebeeinband förmlich greifbar. Die Schachteln auf dem Einband wecken Neugier auf die düsteren Geheimnisse, die sich im Inneren der Geschichte offenbaren. Ein visuelles und haptisches Erlebnis, das die literarische Tiefe des Werkes wunderbar ergänzt.
Kalina ist nicht ohne Hintergedanken dorthin gezogen: Sie hat sich vorgenommen, die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben, die „durchsetzt […] ist mit männerförmigen Löchern“. Es habe Tradition, dass die Väter irgendwann einfach verschwunden seien oder bei Unfällen ums Leben kamen, schreibt sie gleich zu Beginn. Und weist im selben Atemzug von sich, eine allwissende Erzählerin zu sein, da sie über ihre Genealogie so gut wie gar nichts wisse. Also muss sie improvisieren, spekulieren, hinzudichten und erfinden.

Das ehemalige Görbersdorf dient ihr dabei als Ausgangspunkt für familienhistorische Erkundungen. Hier wächst ihre Urgroßmutter Berta Koch als Tochter eines Fleisch- und Wurstwarenproduzenten auf; die Mutter ist im Kindbett gestorben, der Vater ist begeisterter Anhänger Hitlers und betrachtet sein einziges Kind als billige Arbeitskraft. Schon in jungen Jahren lernt sie, Tiere zu zerlegen. Verhält sie sich nicht, wie er es verlangt, muss sie sich vor ihm nackt auf einen Stuhl stellen und anhand ihres Körpers aufzählen, zu was sich die einzelnen Teile eines Schweines verarbeiten lassen. Dass sich Berta erst in Liebesromane, später in eine kurze Affäre mit einem durchreisenden Hallodri stürzt und schwanger wird, wirkt da nur folgerichtig. Doch dann greift sie zum Messer.
Bertas Tochter Barbara wächst in den Wirren des Zweiten Weltkriegs in einem Waisenhaus auf. Sie spricht nicht, bis sie von einem Ehepaar – das aus der Ukraine nach Schlesien deportiert wurde und genauso sprachlos ist – adoptiert wird und mit ihnen in eine kleine Wohnung in Wałbrzych zieht. Dass Barbara eigentlich Deutsche ist, verheimlicht sie gekonnt, indem sie sich von den anderen Kindern im Haus fernhält und sich lieber zwischen alten Möbeln auf dem Dachboden versteckt.

Die verwohnten Zimmer am Wałbrzycher Bergmannsplatz sind nicht nur der Ort, an dem Barbara später alleine ihre Tochter Violetta aufzieht, sondern auch noch deren Tochter Kalina; Violetta, eine tragikomische Figur, hatte sie bei ihrer Großmutter, der Babcia, zurückgelassen, weil sie sich zu Höherem berufen fühlte. Mit viel Make-up, billigem Schmuck und falschen Nägeln hangelt sie sich von Affäre zu Affäre und findet doch nicht den Mann, der sie aus ihrem Elend befreit. Alle vier Frauenfiguren suchen nach ihrem individuellen Weg in die Freiheit, drei von ihnen scheitern letztendlich damit. Ihre Traumata ziehen sich durch die Generationen und prägen die Entscheidungen ihrer Nachkommen.
Joanna Bator verwebt die Leben ihrer Charaktere nur in Nebensätzen miteinander, sie erzählt jede Frau einzeln: von Berta über Barbara zu Violetta und Kalina und dann wieder von vorn, sodass sich ein multiperspektivisches Bild der vergangenen Jahrzehnte ergibt. Dabei lässt sie sich viel Zeit, um die Szenerie und die Hausbewohner mit all ihren Details und Schrulligkeiten – und der fast allen innewohnenden titelgebenden Bitternis – zu schildern. Entstanden ist daraus mehr als eine Familiengeschichte; es ist ein wahres Epos über die Suche nach Selbstverwirklichung und den Versuch, sein Leben auf die bestmögliche Weise zu leben.
Julia Schmitz arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Bücher sind für sie ein Grundnahrungsmittel.
Die Autorin
Joanna Bator, geboren 1968 in Wałbrzych, Polen, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Sie gilt als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für Dunkel, fast Nacht wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.
Die Übersetzerin
Lisa Palmes, geboren 1975 in Münster, hat u. a. Werke von Wojciech Jagielski, Lidia Ostałowska, Filip Springer und Olga Tokarczuk übersetzt. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Karl-Dedecius-Preis und 2019 mit dem Sonderpreis des Riesengebirgspreises für Literatur.