Wo Traum und Wachen sich begegnen


Büchergilde Weltempfänger

Proteste, Repression, Stadtflucht: Die Autorin Dorothy Tse spiegelt in Mann im Anzug mit Ballerina die Realitäten Hongkongs in einer fantastisch-surrealen Geschichte. Im Interview spricht sie über die Möglichkeiten der Fiktion und die politische Lage in ihrer Heimat.

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Liebe Dorothy Tse, Sie haben das Schreiben von Kurzgeschichten einmal gleichgesetzt mit dem Lösen von Puzzleaufgaben, das Schreiben eines Romans bedeutet für Sie dagegen, sich „tiefer und tiefer in einen Tunnel zu graben“. Ist es Ihnen gelungen, bei der Arbeit an Ihrem Romandebüt Mann im Anzug mit Ballerina nicht in den Tiefen des Tunnels verloren zu gehen? Und wann haben Sie wieder Licht gesehen?

Eigentlich ist es gut, beim Schreiben ein wenig verloren zu gehen, dann merkt man, dass man ein bisher unbekanntes Gebiet betritt. Der Entwurf des Romans war zwar seit einiger Zeit fertig, doch konnte ich das Ende erst schreiben, als 2019 die Proteste gegen das sogenannte „Auslieferungsgesetz“ (Gesetz über flüchtige Straftäter und Rechtshilfe in Strafsachen) in Hongkong losbrachen. In diesem Moment spürte ich, dass es sehr viel unterdrückte Energie gab, man könnte auch sagen, das „Unterbewusstsein der Stadt“ bahnte sich einen Weg an die Oberfläche. Das war der Zeitpunkt, an dem ich das Gefühl hatte, meine Protagonisten und ihre Beziehung zur Stadt endlich zu verstehen.

 

Mann im Anzug mit Ballerina kann als eine groteske, fantastische Geschichte in einem fiktiven Land beschrieben werden. Warum wählten Sie genau dieses Setting und nicht einen realistischen Hintergrund?

Als ich mit dem Schreiben anfing, wurde ich von der Literatur der Avantgarde-Autoren aus Festlandchina wie Yu Hua und Can Xue beeinflusst. Insbesondere interessierten mich ihre Werke, die Mitte der 1980er-Jahre veröffentlicht wurden und den Wahnsinn der Kulturrevolution offenbarten. Außerdem begann ich zu dieser Zeit Franz Kafka, Gabriel García Márquez und andere zu lesen. Ich würde sagen, dass mich Literatur inspiriert, die einen Riss in der Realität hervorrufen kann. Solche Brüche enthüllen die Instabilität unseres Alltags und lenken dabei das Augenmerk auf andere mögliche Realitäten und Werte.

 

Ihre Geschichten sind durchdrungen von Motiven der Entfremdung, von Transformationen oder Figuren, die vom Bild eines Menschen abweichen, wie wir es üblicherweise verstehen. Wie finden Ihrer Meinung nach Surrealismus und Normalität zusammen? Wo enden Träume, wo beginnt die Realität?

In seiner Auseinandersetzung mit dem Surrealismus hat Walter Benjamin das Konzept des „Erwachens“ entwickelt, eine dialektische Erfahrung zwischen Träumen und Wachen oder das, was er das „Jetzt der Erkennbarkeit“ nennt. Damit beschreibt er einen Moment, in dem sich uns Geschichte ganz plötzlich offenbart. Diese Gedanken gefallen mir. Für mich waren die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz solche Momente. Ähnlich denke ich auch über die Grenze zwischen Menschen und Nicht-Menschen – sprich: Es gibt keine klare Unterscheidung. Was bedeutet es, zu leben? Ich habe das Gefühl, dass „Menschsein“ nicht gegeben ist, sondern Selbsterschaffung und Abenteuergeist erfordert.

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Während die Geschichte von Professor Q in einer Hongkong-ähnlichen Megacity spielt, gibt es auch viele Beschreibungen der Natur – Berge, Wälder oder kleine Inseln. Könnten Sie das näher erläutern?

Obwohl Hongkong vor allem als Metropole bekannt ist, gelten 70 % seiner Fläche tatsächlich als Landschaftspark. Der taiwanesische Schriftsteller Liu Ka-shiang hat einst ein Buch mit dem Titel 3/4 of Hong Kong geschrieben, das sich mit seinen Erfahrungen beim Wandern in Hongkong beschäftigt. Vor mehr als zehn Jahren begann sich in Hongkong ein wachsendes kritisches Bewusstsein für die rasche Urbanisierung und den Einfluss des Kapitalismus zu entwickeln. Es gab Bedenken hinsichtlich der Zerstörung von Kulturgeschichte, der natürlichen Umgebung und alternativer Lebensweisen. Diese neuen Denkrichtungen sind auch eng mit den sozialen Bewegungen nach 1997 verbunden. Der Protest gegen eine geplante Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke im Jahr 2009 markiert einen ihrer Höhepunkte.

(Anmerkung der RedaktionDie „Anti-Hong Kong Express Rail Link“-Bewegung setzte sich gegen eine 26 Kilometer lange Bahnstrecke ein, die Hongkong an das Hochgeschwindigkeitsbahnnetz des chinesischen Festlands anschließen sollte. Die Strecke wurde letztendlich realisiert, wofür das Dorf Choi Yuen Tsuen mit seinen circa 450 EinwohnerInnen umgesiedelt wurde.)

 

Mann im Anzug mit Ballerina thematisiert auch das Thema Flüchtlinge: Es treten Menschen auf, die vom Festland auf die Halbinsel geflüchtet sind, wo der Protagonist lebt; auch er selbst ist ein Migrant. Die Geschichte beschreibt eine über Jahrzehnte entstandene Klassengesellschaft, die sich über Hautfarbe oder Herkunft definiert. Welche Parallelen ziehen Sie dabei zum gesellschaftlichen Wandel Hongkongs?

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Hongkong ist größtenteils eine Einwandererstadt. 1842, als die Insel Hongkong an das britische Empire abgetreten wurde, lebten dort nur etwa 7 000 Einwohner – heute sind es über sieben Millionen! Aufgrund kultureller Unterschiede und auch aus wirtschaftlichen Gründen kam es über verschiedene Zeiträume hinweg häufig zu Konflikten zwischen neuen chinesischen Einwanderern und früheren Siedlern. Gleichzeitig war Hongkong eben eine britische Kolonie, sodass die eigentliche Minderheit der weißen Bevölkerung immer als Oberschicht agierte und Englisch als überlegene Sprache galt. So wird der chinesische Dialekt Kantonesisch, der in Hongkong gesprochen wird und dort weit verbreitet ist, im Vergleich zu Englisch oder Mandarin oft als zweitklassig angesehen.

Hongkong ist eine relativ wohlhabende Stadt. Ab Ende der 1970er-Jahre haben viele Menschen Hausangestellte von den Philippinen und später auch aus Indonesien beschäftigt. Es gibt auch südasiatische Migranten in Hongkong, die etwa als Bauarbeiter oder Sicherheitskräfte arbeiten. Diese Realitäten spiegelt auch mein Roman wider. Ich habe mit Professor Q bewusst einen Protagonisten gewählt, der eine uneindeutige Nationalität und Herkunft hat, und der Spieluhr-Ballerina einen europäischen Hintergrund gegeben.

 

In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass der Anteil spekulativer Belletristik und Science-Fiction in der chinesischen Literaturwelt steigt. Diese Romane werden auch verstärkt für internationale Märkte übersetzt. Was denken Sie darüber?

Das ist tatsächlich ein Trend in Festlandchina und unterscheidet sich deutlich von Hongkong. Ich denke, wenn Schreibende spüren, dass sie im Umgang mit Themen der Gegenwart eingeschränkt werden, kann das Genre Science-Fiction einiges an Freiheit und kreativen Möglichkeiten bieten. In Hongkong ist jedoch eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten: In den letzten Jahren interessieren sich immer mehr AutorInnen für einen „realistischen“ Stil und konzentrieren sich auf den Alltag, die Natur und so weiter. Hier muss erwähnt werden, dass Hongkong über eine ganz andere literarische Tradition als Festlandchina verfügt, da Schriftsteller in Hongkong seit den 1960er-Jahren stark von der modernen Literatur beeinflusst wurden. Einige bedeutende Schriftsteller wie Xi Xi und Leung Ping-kwan haben ab den 1970er-Jahren Methoden des Surrealismus, des magischen Realismus und der Postmoderne in ihre Werke übernommen. Jedoch wird die Literatur aus Hongkong nicht in großem Umfang übersetzt, weswegen die Werke vieler SchriftstellerInnen aus Hongkong außerhalb des chinesischen Kontexts nicht bekannt sind.

Für mich ist das Schreiben keine ‚Flucht‘ vor der Realität. Wir schreiben nicht nur, um eine Art von Realität festzuhalten oder einzufordern. Schreiben ist ein Teil der Wirklichkeit.

Dorothy Tse

Eskapismus wird entweder als Kompensation für die Probleme des realen Lebens angesehen oder dafür gepriesen, dass er die Kraft hat, eine utopische Idee zum Leben zu erwecken. Was halten Sie von der Macht des „Was wäre, wenn …“? Wie kann man das „realistisch Machbare“ überwinden, um alternative Denk- oder Lebensweisen ins Leben zu rufen?

Ich denke, diese Frage muss auf das zurückgehen, was wir unter Literatur oder Schreiben verstehen. Für mich ist das Schreiben keine „Flucht“ vor der Realität. Wir schreiben nicht nur, um eine Art von Realität festzuhalten oder einzufordern. Schreiben ist ein Teil der Wirklichkeit. Ich glaube, dass die Wirklichkeit nicht „da draußen“ ist, sondern immer durch Sprache vermittelt wird. Wir alle wissen, dass wir Geschichten brauchen, um zu definieren, wer wir sind und welchen Sinn wir im Leben haben, egal ob es sich um eine Person oder ein Land handelt. Das Schreiben selbst ist eine Handlung, eine Intervention.

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Wie hat sich die Kultur- und Literaturszene in Hongkong seit den Protesten verändert? Und was hat sich durch den politischen Aufstand in Ihrer Arbeit und Ihrem Schreiben verändert?

2021 wurden viele wichtige Medien in Hongkong, die der Regierung kritisch gegenüberstanden, wie Apple Daily, Radio Television Hong Kong (RTHK) und andere, in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, es wurde hart gegen sie durchgegriffen. Dies führte zum Verschwinden einiger wichtiger kultureller und literarischer Programme und Veröffentlichungsorgane.

Es gibt Berichte darüber, dass bestimmte Gedichtbände aus den Regalen öffentlicher Bibliotheken entfernt werden; auch Filme unterliegen einer strengen Zensur. Die Namen einiger KünstlerInnen und literarischer Organisationen wurden von offiziellen chinesischen Zeitungen aufgelistet und somit Warnungen ausgesprochen. Und natürlich schränken Fördereinrichtungen ihre finanzielle Unterstützung für „sensible Werke“ ein. Auch Literaturpreise sind davon betroffen. Unter dem mehrdeutigen Gesetz zur „Wahrung der nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungszone Hongkong“ kann niemand genau sagen, wann die rote Linie überschritten ist. Aber auf der anderen Seite sehe ich so viel Energie, die dem literarischen Schaffen gewidmet wird, und ich glaube nicht, dass die Leute wegen der Unterdrückung einfach aufgeben werden. Ich selbst empfinde die Protestbewegung als einen unglaublich kreativen Akt, und das trotz der Repressionen, der mir immer noch viel Energie und Kraft beim Schreiben gibt.

 

Wie lautet Ihre persönliche Prognose für die politische Entwicklung in Hongkong?

Die Meinungsfreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz und die Teildemokratie, die wir früher genossen haben, wurden zerstört und verschwinden weiterhin sehr schnell. Viel weist außerdem darauf hin, dass die Regierung des Festlandes ihre Kontrolle in allen Lebensbereichen verschärft – und Hongkong wird keine Ausnahme sein. Hongkong, wie wir es kannten, existiert vielleicht nicht mehr. Ich aber glaube immer noch daran, dass die Hongkonger auf jede erdenkliche Weise versuchen werden, Widerstand zu leisten und die eigene Kultur zu bewahren und wieder aufzubauen.

 

Vielen Dank für das Interview, Frau Tse!

 

Die Fragen stellten Marlen Heislitz und Corinna Santa Cruz. Das Interview wurde auf Englisch geführt.


Die Autorin

Dorothy Tse

Dorothy Tse, geboren 1977, gehört zu den wichtigsten literarischen Stimmen Hongkongs. Sie schreibt auf Chinesisch, ihre Erzählungsbände wurden auch in englischer Sprache veröffentlicht. Sie erhielt dafür u.a. den Hong Kong Biennal Award for Chinese Literature und Taiwans Unitas New Fiction Writers' Award. Tse ist Mitbegründerin des Hongkonger Literaturmagazins Fleurs des Lettres. Ihr Debütroman Mann im Anzug mit Ballerina stand auf der Shortlist der Taipei International Exhibition (TiBE) Book Prizes. Dorothy Tse unterrichtet an der Hong Kong Baptist University.


Der Übersetzer

Marc Hermann studierte Germanistik, Philosophie und Sinologie in Kiel, Shanghai und Bonn. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Sinologie der Universität Bonn. Er hat zahlreiche Werke von Autoren der modernen und der zeitgenössischen chinesischen Literatur übersetzt (darunter Alai, Bi Feiyu, Su Tong, Yan Lianke), zuletzt v.a. Science Fiction (u.a. Cixin Liu).


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Bereits erschienen

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Damon Galgut


Das Versprechen

Literatur aus Südafrika „Das Versprechen“ erzählt vom zunehmenden Zerfall einer weißen südafrikanischen Familie, die auf einer Farm außerhalb Pretorias lebt. Die Swarts versammeln sich zur Beerdigung ihrer Mutter Rachel, die mit vierzig an Krebs stirbt. Die jüngere Generation, Anton und Amor, verabscheuen alles, wofür die Familie steht – nicht zuletzt das gescheiterte Versprechen an die schwarze Frau, die ihr ganzes Leben für sie gearbeitet hat. Nach jahrelangem Dienst wurde Salome ein eigenes Haus, eigenes Land versprochen ... doch irgendwie bleibt dieses Versprechen mit jedem Jahrzehnt, das vergeht, unerfüllt. Mit großer erzählerischer Kraft und nah an den Personen schildert Damon Galgut eine Familiengeschichte, die sich über dreißig Jahre des politischen Umbruchs in Südafrika erstreckt – von der Apartheid bis hin zur Demokratie. Während sich das Land von den alten tiefen Spaltungen zu einer neuen, gerechteren Gesellschaft hin bewegt, schwebt über allem die Frage: Wie viel Verbitterung, wie viel Erneuerung, wie viel Hoffnung bleiben? Für Sie ausgewählt für den Büchergilde-Weltempfänger! Liebe Leserin, lieber Leser, mit ‚Das Versprechen‘ von Damon Galgut haben wir nach ‚Aufbrechen‘ von Tsitsi Dangarembga den zweiten Roman eines/r afrikanischen Autors/Autorin für die Reihe Büchergilde Weltempfänger ausgewählt. Und das aus voller Überzeugung! In Südafrika ging es nach dem Ende der Apartheid darum, eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen. Doch wie die weiße Farmersfamilie Swart mit dem Verlust ihrer Privilegien umging, das schildert Galgut mit großer sprachlicher Wucht und oft gnadenlos gegenüber seinen Figuren. Gesellschaftliche Umbrüche erfordern Mut und offenbaren schonungslos menschliche Schwächen. Ein großartiger Roman, der uns viel über Südafrika erzählt – und auch über uns selbst. Corinna Santa Cruz Lektorin und Kuratorin der Reihe Büchergilde Weltempfänger (in Kooperation mit Litprom e.V.)

Preis

24,00 €

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