Die Rekonstruktion eines ungewöhnlichen Lebens


Shelly Kupferberg begibt sich auf biografische Spurensuche ihres jüdischen Urgroßonkels

Die Autorin, Journalistin und Moderatorin Shelly Kupferberg spricht im Interview über die Recherchen zu ihrem Buch Isidor, das vom Aufstieg ihres Urgroßonkels in Wien und seinem bitteren Ende unter den Nazis erzählt.

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Liebe Frau Kupferberg, wir freuen uns, dass Ihr Buch in unserem Programm erscheint. Und mit der Büchergilde verbinden Sie auch eine persönliche Erinnerung?

Ich freue mich, dass mein Buch bei der Büchergilde erscheint, weil damit eine kleine Familientradition einhergeht. Mein Großvater, der Historiker Walter Grab, hat in der Büchergilde mehrere Bücher veröffentlicht. Er lebte in Tel Aviv, aber immer, wenn er zu uns nach Berlin kam und seine Enkelkinder, also uns, besucht hat, war eine seiner ersten Fragen: „Kinder, kommt ihr mit zur Büchergilde? Ihr dürft euch was aussuchen.“ Und dann durften wir wirklich zugreifen. Deshalb habe ich die Büchergilde immer als etwas ganz Positives in Erinnerung.

 

Ihr Buch Isidor erzählt die Geschichte Ihres Urgroßonkels, die Sie rekonstruiert haben. In der Familie war Isidor eigentlich kein großes Thema?

Meine Großeltern, die aus Wien, Berlin und Hildesheim stammten, haben viel von ihrem Leben erzählt. Wir Enkelkinder haben sie auch sehr gelöchert, aber über diesen meinen Urgroßonkel hat mein Wiener Großvater Walter Grab nur sehr wenig erzählt. Es gab da nur diese eine kleine Anekdote: Jeden Sonntag musste er als Jugendlicher ins Palais dieses Onkels Isidor. Der hat dort ein Bankett für die Crème de la Crème der Stadt gegeben. Mein Großvater, der als Schüler schon ein kluges Kerlchen war, wurde dann jedes Mal mit einer Wissensfrage konfrontiert, also abgefragt und vorgeführt vor der versammelten Menge. Ich wusste zwar, was mit diesem Urgroßonkel am Ende seines Lebens passierte, mehr aber nicht.

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Was war der Auslöser für die Recherche zu Ihrem Urgroßonkel?

Ich hatte vor einigen Jahren das große Vergnügen, eine große Konferenz zum Thema Raubkunst und Provenienzforschung moderieren zu dürfen. Und bei dieser Gelegenheit dachte ich plötzlich: „Mensch, du hattest doch angeblich diesen Urgroßonkel in Wien, der in einem Palais lebte. In diesem Palais muss es doch Kunst gegeben haben?“ Diese Frage ließ mich nicht los. Nach der Tagung machte ich mich tatsächlich auf in die Archive und fand einiges über ihn.

So fing ich tatsächlich an, sein Leben zu rekonstruieren, weil ich diesen sozialen Aufstieg rekapitulieren wollte. Wie muss ein Mensch beschaffen sein, um so etwas zu schaffen? Er war Kommerzialrat und Berater des österreichischen Staates. Das muss man erst einmal schaffen.
Shelly Kupferberg im Interview über ihren Urgroßonkel Isidor

Wo haben Sie mit Ihrer Recherche angefangen?

Im Österreichischen Staatsarchiv. Dort habe ich in eine Suchmaschine den Namen „Isidor Geller“ eingegeben und fand heraus, dass es im Staatsarchiv einiges über ihn gibt. Was ich als Erstes dort entdeckte, war seine Vermögenserklärung. Jeder Jude, jede Jüdin musste nach der Machtübernahme der Nazis den kompletten Besitz auflisten. Ich wusste daher sehr genau, was er besaß: vom kleinen Mokkalöffel bis zur Austerngabel, über einen Lüster, über Gemälde, Perserteppiche und allerlei andere Dinge.

 

Wie gingen Sie weiter vor mit der Rekonstruktion der Lebensgeschichte? Hat sich das dann so nach und nach entwickelt, dass Sie gesagt haben, „Da muss ich mehr wissen?

So war es. Denn ich fragte mich, bei all diesem Reichtum, der sich plötzlich vor mir eröffnete – den Wertpapieren, dem Zehn-Zimmer-Palais mit entsprechender Ausstattung –, warum er eigentlich so reich war. Ich wusste von meinem Großvater, dass Isidor aus ganz armen Verhältnissen aus Ost-Galizien kam. Ich fragte mich, wie er zu diesem ganzen Besitz kam. So fing ich tatsächlich an, sein Leben zu rekonstruieren, weil ich diesen sozialen Aufstieg rekapitulieren wollte. Wie muss ein Mensch beschaffen sein, um so etwas zu schaffen? Er war Kommerzialrat und Berater des österreichischen Staates. Das muss man erst einmal schaffen.

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Sie haben also doch noch Briefe gefunden?

Eines Tages rief mich meine Mutter an. Sie hatte auf dem Dachboden seiner Wohnung in Tel Aviv diese Briefe gefunden. Mein Großvater hat sie fein säuberlich aufbewahrt. Das war ein toller Fund.

 

Wann wussten Sie, dass daraus ein Buch werden würde?

Die Recherchen waren eine detektivische Arbeit und es war eine Beglückung, wenn mal ein Treffer dabei war. Da ich „Radio-Frau“ bin, dachte ich, ich mache ein Hörfunk-Feature, merkte aber ganz schnell, dass diese Fülle an Material diesen Rahmen sprengen würde. Und dann fürchtete ich, dass ich all diese Dinge vergesse, insbesondere die kleinen Details. Ich musste es dann niederschreiben, damit ich’s nicht vergesse. So ging’s los, und das Manuskript wurde immer umfangreicher. Das Kopfkino wurde in Gang gesetzt und es machte einen großen Spaß. Irgendwann bemerkte ich: „Shelly – ich glaub, das ist ein Buch.“

Die Geschichte meines Urgroßonkels ist einerseits eine Aufstiegsgeschichte, die Geschichte eines Selfmademans, aber dann gibt es die große Katastrophe, den großen Bruch und alles wird ganz schrecklich, weil die Nazis die Macht übernehmen. Die Frage stellt sich für jeden von uns: Warum hat Isidor die Zeichen der Zeit nicht richtig interpretiert und die Konsequenzen gezogen?
Shelly Kupferberg im Interview über ihren Urgroßonkel Isidor

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Es gab noch Lücken, die nicht so einfach gefüllt werden konnten. Deshalb gibt es einige halb-fiktionale Abschnitte, Gespräche, verschiedene Szenen. Wie haben Sie das entwickelt?

Ich fand Fragmente seines Lebens, mit denen ich vieles rekonstruieren konnte, etwa seinen Freundeskreis oder durch wen er seine letzte Geliebte kennengelernt hat. Es sind irre Geschichten, die ich da fand. Andererseits gab es kein O-Töne von ihm. Und dann stellte sich die Frage: Wie geht man damit um? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann es fragmentarisch stehen lassen. Habe ich auch in weiten Teilen so gemacht, aber es gab Momente, da habe ich mir erlaubt zu fiktionalisieren.

Sie haben auch eine fiktionale Figur eingeführt?

Die Geschichte meines Urgroßonkels ist einerseits eine Aufstiegsgeschichte, die Geschichte eines Selfmademans, aber dann gibt es die große Katastrophe, den großen Bruch und alles wird ganz schrecklich, weil die Nazis die Macht übernehmen. Die Frage stellt sich für jeden von uns: Warum hat Isidor die Zeichen der Zeit nicht richtig interpretiert und die Konsequenzen gezogen? Warum hat er nicht gesagt: „Ich habe die finanziellen Mittel, ich haue ab, ich flüchte.“ Stattdessen meinte er: „Ich kann ja nicht gemeint sein. So schlimm wird’s nicht werden. Ich gehör‘ ja dazu.“ Ich musste erklären, wieso er nicht geflüchtet ist. Dazu habe ich mir die innerjüdischen Debatten der damaligen Zeit noch mal genauer angeschaut. Wie haben die Menschen argumentiert, wie haben sie die Entwicklungen interpretiert? Was waren ihre Argumente? Und diese Debatten wollte ich im Buch sichtbar machen, um nachvollziehen zu können, warum Isidor so gehandelt hat. Dazu brauchte ich einen Sparringspartner. Deshalb habe ich mir erlaubt, eine ganze Figur zu erfinden. Das ist der Schneider Goldfarb, mit dem er genau diese Gespräche führt.

 

Ihr Urgroßonkel war ein Lebemann, er war ein begeisterter Opernbesucher und war häufig im Theater. In diesem Umfeld lernte er auch seine Geliebte kennen, ein ungarisches Revue-Girl?

Mein Großvater erzählte lediglich, dass Isidor Mätressen hatte. Als Kind habe ich nicht verstanden, was das sein soll. Jetzt, bei der Recherche, fiel es mir wieder ein: Wer war das wohl? Dann gab es eben die Erwähnung seiner letzten Geliebten in den Briefen, Ilona Hajmássy, des Revue-Girls aus Budapest, die von der Familie eher beargwöhnt wurde. Man hat ihr unterstellt, sie wäre doch nur am Geld des Onkels interessiert. Sie war eine sehr schöne, hochgewachsene Frau und wollte auf die große Bühne. Sie ist aus Budapest wegen eines Ehe-Skandals geflohen. Isidor lernte sie in Wien kennen, hat sie finanziert, hat den besten Gesangsunterricht bei den besten Professoren ermöglicht, hat die Wiener Hofoper bezahlt, damit sie dort auftreten konnte. So konnte sie sagen, dass sie schon auf großen Bühnen aufgetreten ist.

 

Sie hat ja später als Ilona Massey eine erstaunliche Karriere in Hollywood gemacht.

Tatsächlich wurde sie 1937 von Hollywood entdeckt. Hollywood hatte einige Büros in europäischen Metropolen und hat immer wieder Talente gesucht. Sie wurde angesprochen, nachdem sie die eine oder andere Operettenrolle gespielt hatte. Sie hat ihre Chance ergriffen und immerhin elf große Filme gemacht und dann auch einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame bekommen, Sie war wirklich eine hochangesehene Schauspielerin, hat später aber das Handtuch geworfen – Hollywood muss wirklich ein hartes Pflaster gewesen sein. Im Nachhinein würde man sagen, da waren auch viele MeToo-Geschichten im Spiel.

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Ihr Urgroßonkel hat dann kurz vor seinem Tod noch einen Brief an sie geschrieben?

Nachdem er von den Nazis gefangen genommen wurde und so lange gefoltert wurde, bis er bereit war, sein Hab und Gut den Machthabern zu überschreiben, hat er begriffen, dass er so schnell wie möglich weg muss. Das Problem war nur, er hat sich in der Haft eine Blutvergiftung zugezogen, wurde schwer krank, an einer Sepsis ist er letztlich auch verstorben. Als er noch die Hoffnung hatte, wieder zu genesen, hat er einen Container packen lassen mit dem, was die Nazis ihn hätten ausführen lassen. Dieser Container hätte nach Hollywood zu Ilona gehen sollen. Er hat Wien nie verlassen und es gab einen letzten Brief aus dem Krankenbett heraus, mit der Ankündigung, dass er gerne zu ihr möchte, wenn er wieder gesund ist, und auch bereit wäre, als Diener bei ihr anzufangen, sollte er eine Last für sie sein. Was für so einen stolzen Selfmademan, der er war, sehr bitter sein musste.

 

Mit welchen Gefühlen gehen Sie durch das heutige Wien, den Wohnort Ihres Urgroßonkels und auch ihres Großvaters?

Ich glaube, ich habe die Ambivalenz meines Großvaters zu Wien geerbt. Er war oft nach dem Krieg dort. Das spricht so aus seinen Briefen nach seiner ersten Wien-Reise 1956. Ich kann das gut nachvollziehen.
Auf der einen Seite fühlte er sich in Wien wie ein Fisch im Wasser, so glücklich, so fröhlich, wieder in alten Gefilden sein zu können, die er so schmerzlich vermisst hat, bis zu seinem Tod übrigens. Er war Wiener durch und durch. Er war mit der Hofoper, dem Burgtheater, mit der ganzen Kultur, mit diesen Bauten, mit der Stadt verwoben. Und gleichzeitig gab es diesen tiefen Schmerz, diese tiefe Wunde, vertrieben worden zu sein, diese Verletzung, diese Erniedrigung, bei seiner Ausreise unterschreiben zu müssen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen.
Und beides hat er uns vermittelt. Und ich kann nicht anders, als beides zu empfinden, wenn ich dort bin. Ich verstehe, was er so vermisst hat, diese Schönheit, diesen Zuckerguss, diesen Schmäh, der auch seine ganz morbiden, abgründigen Seiten hat, wie wir wissen.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Kupferberg!

 

Die Fragen stellte Jürgen Sander.

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