„Wie viel Hoffnung? Fünf Prozent.“


Uwe Wittstock erzählt in Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur von den vielen verzweifelten Literat:innen und Künstler:innen auf der Flucht vor Gestapo und Wehrmacht und von dem heldenhaften amerikanischen Journalisten Varian Fry, der alles daransetzte, den Verfolgten eine Flucht in sichere Länder zu ermöglichen.

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Marseille ist eine faszinierende Stadt, die Kulisse mit der Notre-Dame de la Garde und dem alten Hafen ist atemberaubend. Mit in meinem Reisegepäck ist Marseille 1940, das Buch des Schriftstellers und Journalisten Uwe Wittstock. Sicher keine klassische Urlaubslektüre, aber eine Gelegenheit, die dramatische Geschichte der Stadt im Jahr 1940 kennenzulernen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland flohen viele Literat:innen und Künstler:innen ins vermeintlich sichere Exil nach Frankreich. Doch der Schrecken holte sie ein, als Deutschland Frankreich angriff und große Teile, einschließlich der Stadt Paris, besetzte. Und so begann für viele eine zweite Flucht vor der immer weiter vorrückenden deutschen Wehrmacht. Das Ziel: der vermeintlich rettende Hafen von Marseille im nicht besetzten Teil Frankreichs unter der Vichy-Regierung. Aber dennoch wurden viele Flüchtlinge im „freien“ Teil Frankreichs interniert, etwa im Internierungslager Les Milles in Aix-en-Provence, wo die Stimmung verzweifelt ist, als die Insass:innen hören, dass Marshall Pétain Waffenstillstandsverhandlungen mit den Deutschen aufnimmt. Eigentlich sollte ein Zug die Häftlinge in Sicherheit bringen, aber das ist alles andere als gewiss. Im Lager fragt Walter Hasenclever seinen Schriftsteller-Kollegen: „Lieber Feuchtwanger, wir brauchen Mut heute. Wie viel Prozent Hoffnung geben Sie uns?“ Und Feuchtwanger antwortet: „Wie viel Hoffnung? Fünf Prozent.“ Walter Hasenclever nahm sich in der Nacht darauf mit Veronal das Leben. Und doch schafften es Feuchtwanger und viele andere in einen Zug nach Marseille.

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Dort hatte der amerikanische Journalist Varian Fry, nach erschreckenden Erlebnissen in Berlin, ein Rettungskommitee für Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Sozialdemokrat:innen, Kommunist:innen und Jüdinnen und Juden aufgebaut, um ihnen die Flucht in die USA und andere aufnahmebereite Staaten zu ermöglichen. Dazu organisierten er und seine Mitstreiter:innen Visa, Schiffstickets, recherchierten Fluchtrouten durch die Pyrenäen, auf denen man ohne die nötigen Papiere über die Grenze nach Spanien kam.

Es war eine bunte Schar, die ihre Hoffnungen auf Varian Fry setzten. Darunter wohlhabende Autor:innen wie Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, die im noblen Hotel Louvre et Paix abstiegen, oder Lion und Marta Feuchtwanger, die im Haus mit Swimming Pool und Garten des amerikanischen Vizekonsuls Hiram Bingham unterkamen, aber auch Autor:innen wie Anna Seghers, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Künstler wie Max Ernst, André Breton, Mark Chagall und viele andere mehr, die in billigen Hotels, privaten Kammern in der Nähe des Vieux Port einen Schlafplatz fanden. Aber alle verband sie die Angst, die Verzweiflung und die Ohnmacht gegenüber den Behörden, von denen sie Visa, Transitvisa, Aufenthaltsgenehmigungen benötigten.

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Keinen Schmerz, keine Furcht, keine Sehnsucht. Auch keine Vorfreude auf Kuba. Sie ist leer, ausgebrannt.

Bei Varian Frys Centre Américain de Secours meldeten sich schätzungsweise 15.000 Personen, die sich von ihm Hilfe bei ihrer Ausreise erhofften. Etwa 2.200 konnte er eine Flucht in sichere Länder ermöglichen. Uwe Wittstock hat Briefe, Tagebucheinträge, späte Erinnerungen ausgewertet, aber auch literarische Texte, die in Marseille entstanden sind, etwa Anna Seghers Romane Das siebte Kreuz und Transit, in denen sie ihre Erlebnisse in Marseille verarbeitet, sind Beispiele dafür.

Marseille 1940 ist ein aufwühlendes Buch, spannend wie ein Krimi und gleichzeitig erschütternd aufgrund der Schicksale der Verfolgten. Mit diesem Buch Marseille zu besuchen macht das Geschehene noch realer spürbar, insbesondere, wenn man einige der Schauplätze aufsucht, z. B. den Bahnhof Saint-Charles, wo viele Geflüchtete ankamen, oder die Rue Grignon, wo das Komitee seinen Sitz hatte. Dort ist heute eine Gedenkplakette in Erinnerung an Varian Fry angebracht. Auch das Hotel, in dem Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel abgestiegen waren, ist heute noch zu sehen, auch wenn dort mittlerweile ein Kaufhaus eingezogen ist. Ein großes Buch, das einen nicht so schnell loslässt.

Jürgen Sander

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Der Autor

Uwe Wittstock, geboren 1955, ist Schriftsteller und Journalist und war bis 2018 Redakteur des Focus. Zuvor hat er als Literaturredakteur für die FAZ, als Lektor bei S. Fischer und als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die Welt gearbeitet. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis für Journalismus ausgezeichnet.


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