Generationenwechsel


Ewald Frie im Büchergilde-Interview

Der Historiker und Gewinner des Deutschen Sachbuchpreises Ewald Frie spricht im Büchergilde-Interview über sein prämiertes Buch Ein Hof und elf Geschwister und das leise Verschwinden des bäuerlichen Lebens am Beispiel seiner Geschwister und Eltern.

175126_Frie_Hof_3D_01.png

Um die Veränderungen Ihres Hofes im Laufe der Zeit zu dokumentieren, haben Sie Ihre Geschwister für dieses Buch interviewt. Wie waren denn deren Reaktionen?

Alle haben zugestimmt, sich interviewen zu lassen, wofür ich sehr dankbar bin. Am Ende haben wir alle gelernt, dass wir unterschiedlicher aufgewachsen sind, als wir selbst für möglich gehalten haben. Meine Geschwister haben sich untereinander angerufen und gesagt: »Echt jetzt?«

Da ist uns allen bewusst geworden, dass wir dazu neigen, den eigenen Fall als den paradigmatischen anzunehmen.

 

Durch die Gespräche zeigen Sie eindrücklich, wie unterschiedlich je nach Geburtsjahrgang die Sicht auf die bäuerliche Welt war. Können Sie das skizzieren?

Die ältesten vier Geschwister (Geburtsjahrgang bis 1950) erzählen, dass sie vor allem mit anderen Bauernkindern befreundet waren. Sie waren davon überzeugt, dass Landwirtschaft Zukunft hat. Und sie sprechen von Arbeit als etwas, das Alltag ist. Nach der Schule machte man Hausaufgaben, und dann war man in den Arbeitsprozess eingegliedert. Das galt als selbstverständlich.

Die Geschwister der Jahrgänge ab 1954 haben den Arbeitsprozess auf dem Hof auch noch stark erlebt. Weniger körperliche Arbeit, dafür aber das Bedienen von Traktoren und Maschinen. Ihr Verhältnis zum Dorf ist anders. Sie sind nicht mehr in der Landjugend, sondern im Sportverein oder den Jugendorganisationen der katholischen Kirchengemeinde. Sie verstehen sich nicht mehr als Bauernkinder, sondern als zum Dorf und zur Kleinstadt zugehörig.

Und dann gibt es die Jüngsten, wie mich, die Jahrgänge von 1962 bis 1969. Wir sind in Hofnähe, aber im Wesentlichen ohne Arbeitsverpflichtung großgeworden. Man wurde gelegentlich noch gebeten, hier und da zu helfen, mehr war es nicht. Wir hatten Freizeit, konnten problemlos im Sportverein und in der Kirchengemeinde aktiv sein. Und Ende der 70er-Jahre spielten die neuen Jugendkulturen bei uns eine große Rolle. Das war vom bäuerlichen Leben sehr weit entfernt.

175126_Frie_Hof_BA_05.jpg

Gerade die in den Biografien umrissene sich wandelnde Trennung zwischen dem Dorf und den Bauern der Region beeindruckte mich.

Das Dorf, das waren in den 1950er-Jahren noch die Arbeiter in der Strumpffabrik, das waren die kleinen Handwerker und Ladenbesitzer. Die Bauern waren etwas anderes, eine Welt für sich. Sie nahmen sich selbst als ländlich wahr. Und die anderen waren halt »die Dörfler«. Und das waren nicht wir.

 

Der gesellschaftliche Wandel lässt sich an Ihren Porträts deutlich ablesen. So erzählen Sie auch von Ihrer Mutter und deren Beziehung zur katholischen Kirchengemeinde, wo das Zweite Vatikanische Konzil, also die Öffnung der Kirche hin zur Welt, eine wichtige Rolle spielte.

Dieser Teil meines Buchs zeigt in der Tat, welche Strategien sich das Bistum Münster angesichts zunehmender Entkirchlichung überlegte. Sie wandten sich verstärkt der Bauernjugend und den Bäuerinnen zu.

Das hat meine Mutter genutzt. In der Landfrauen-Organisation ist sie dem Hausfrauensein entwachsen und hat eine Rolle in der Kirchengemeinde gefunden. So machte sie eine Emanzipation durch, die im Vergleich mit der städtischen linken Frauenbewegung vielleicht schräg aussieht, aber eine Erfahrung ist, die sie mit vielen Frauen ihrer Generation geteilt hat.

 

Über die Jahrzehnte hinweg und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Flüchtlingsbewegungen, die das Zusammenleben des Dorfes und der Höfe beeinflusste, es gab Siedlungen und neue Wohnverhältnisse. Wie sah das genau aus?

Man muss noch weiter zurückgehen und sich an den Ersten Weltkrieg erinnern, als die Ablieferung von Landprodukten straff organisiert wurde, damit die Bevölkerung überhaupt noch zu essen hatte. Zu diesem Zeitpunkt und auch später in der NS-Zeit sind Bauern sehr stark eingebunden in überörtliche Zusammenhänge.

Die Evakuierungen und Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben zusätzlich die konfessionelle Homogenität aufgebrochen und ganz unbekannte Menschen auf die Bauernhöfe und in die Wohnstuben gebracht. Es gab keinen Mietwohnungsmarkt und diese Leute brauchten ein Dach über dem Kopf. Erfahrungen wie diese veränderten das Bild vom autarken Bauern, der mit den anderen nichts zu tun hat.

In den 1950er-Jahren lässt sich dann in immer mehr Teilen Deutschlands eine abnehmende Wertschätzung für Bauern feststellen. In den Sechzigern zeigt sich eine starke Trennung der (alltäglichen) Lebenswelten.

175126_Frie_Hof_BA_07.jpg

Sie sprechen auch darüber, wie die Bereitschaft von Töchtern aus Bauernfamilien, einen Bauern zu heiraten, sich verändert hat. Wie stellt sich das dar?

Zwischen 1955 und 1968 sank der Anteil der Mädchen auf dem Land, die unbedingt einen Bauern heiraten wollten, von über 25 auf unter 10 %. Konstant wollten über diese Jahre hinweg 50 % der Bauerntöchter auf keinen Fall Bäuerin werden.

Die negative Wertung des Bauernberufs wurde also zum einen von außen an die Bauern herangetragen. Sie kam aber gleichzeitig auch aus den bäuerlichen Familien selbst. Man nimmt in dieser Zeit einen zunehmenden Abstand zu den Arbeiterinnen und Arbeitern im Dorf wahr. Da geht es um Urlaub und um Freizeit, Dinge, die in der Wohlstandsgesellschaft der Bundesrepublik selbstverständlicher werden, an denen die bäuerlichen Betriebe aber erst mal keinen Anteil haben.

 

Weiterhin gab es den technologischen Wandel mit der Mechanisierung der Landwirtschaft, der für die Arbeitskultur auf den Höfen einen Unterschied gemacht hat. Als ein Beispiel schreiben Sie über eine unbeliebte Tätigkeit: den Umgang mit Stallmist.

Das war unangenehme, harte körperliche Arbeit. Bis zur Durchsetzung des Miststreuers wurde diese Arbeit, wie viele andere Tätigkeiten auf dem Land, im Team gemacht. Man war in der Gruppe unterwegs, hat gemeinsam gesät, den Binder bedient und gedroschen oder zusammen den Mist auf den Feldern verteilt. Das war teils sehr hierarchisch und nicht immer schön, aber man war ein Team.

Mit dem Einsatz von Maschinen trat dann Einzelarbeit an diese Stelle – mit dem großen Vorteil, dass sie nicht mehr so fordernd war, mit dem Nachteil aber, dass die Last auf nur einer Person liegt.

 

Wie gingen diese Veränderungen zusammen mit der Vererbung von einem Gut?

Der Generationenwechsel war das zentrale Problem auf den Bauernhöfen. In den 1960ern wurde die landwirtschaftliche Altershilfe eingeführt. Die bekam man nach Übergabe des Hofes. Damit wollte die Politik den Wechsel antreiben. Der Einmannbetrieb und die Massentierhaltung sollen Einzug halten mit der nächsten Generation, staatlich gefördert. Dies trat bei uns 1972 ein. Da ist mein Vater erst 60, doch der Wechsel wurde forciert.

175126_Frie_Hof_BA_04.jpg

Im Grunde musste sich jede Generation in der Landwirtschaft also neu erfinden?

Was man in den Übergabeverträgen unseres Hofs seit den 1830er-Jahren nachvollziehen kann, ist, dass die Hofstrukturen lange Zeit weniger kapital-, sondern stattdessen eher arbeitsintensiv sind. Es geht um Betriebs- und Arbeitsorganisation, den Wechsel von Feldfrüchten oder eine Änderung bei der Tierzucht. Doch ab den 1960ern wird Landwirtschaft kapitalintensiver, weil Fuhrpark und Maschinen bezahlt werden müssen. Und Kapital muss bereitgestellt werden: Von Banken, vom Staat oder von beiden.

 

Kann man hier also die Geburtsstunde der Massentierhaltung verorten?

Das hängt durchaus mit diesen Entwicklungen zusammen. Massentierhaltung führte mein Bruder 1972 ein. Vielen Bauern kam dies zunächst vor wie eine Modernisierung, mehr Tiere, weniger körperliche Arbeit, mehr Ertrag. Doch das waren kurzfristige Effekte, die sich nicht verstetigten, der Gewinn pro Tier nahm über die Zeit kontinuierlich ab.

 

Ihr Buch konzentriert sich auf die Region Westfalen-Lippe. Inwieweit ist das übertragbar auf andere deutsche Landstriche?

Die Siedlungsstruktur ist in Deutschland sehr verschieden, genau wie die Arbeitsschwerpunkte: Rinderzucht funktioniert anders als ein Schweinebetrieb, Ackerbau ist schwer zu vergleichen mit Weinbau. Es gibt keinen Norm-Betrieb, von dem man sagen könnte, er liegt repräsentativ genau in der Mitte.

Mein Buch spielt einen Fall am Beispiel meiner Familie durch. Daran können Spargel- und Schweinebauern oder Personen, die in ihrer Familiengeschichte oder der ihrer Eltern diese Erfahrung des Hinausgehens aus dem Land haben, ihre eigene Situation messen, Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen, und ihre Geschichte so vielleicht ein wenig besser verstehen.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Frie.

 

Die Fragen stellte Jürgen Sander.


Der Autor

Ewald Frie, geboren 1962 in Nottuln, wuchs als eins von elf Geschwistern in einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland auf. Ewald Frie ist deutscher Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen.