„Ich habe sehr viel Glück gehabt“


Autor Viktor Funk im Interview mit der Büchergilde

Viktor Funk, Autor und Historiker, fiktionalisiert in Wir verstehen nicht, was geschieht, basierend auf Gesprächen und Briefen, mit viel Gespür die Erfahrungen eines Gulag-Inhaftierten. Im Interview spricht er über seine Recherche und den Bezug zum gegenwärtigen Russland.

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In Wir verstehen nicht, was geschieht begleitet der junge Historiker Alexander den Physiker Lew Mischenko auf einer tagelangen Zugfahrt nach Petschora, dem sowjetischen Gulag, in dem Mischenko jahrelang gefangen war. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Ich bin in der Sowjetunion geboren. Mir war bewusst, dass es in meiner Familie mütterlicher- und väterlicherseits eine Repressionsgeschichte gibt. Ich wusste auch, dass das Thema „Lager“ mal in Gesprächen vorkam, aber es wurde nie viel darüber geredet.

Im Geschichtsstudium nahm ich dann an einem Seminar zum Thema Gulag teil, habe viel dazu gelesen. Ein Buch, das mich sehr bewegt hat, war Der erste Kreis der Hölle von Alexander Solschenizyn. Und dann dachte ich darüber nach, ob es möglich ist, mit Überlebenden des Gulags zu reden.

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Ehemaliges Lagergefängnis in Petschora, Russland

Sie haben sich dann mit der Menschenrechtsorganisation Memorial International in Verbindung gesetzt?

Anfang der 2000er-Jahre hatte Memorial viele internationale Unterstützer:innen, seit 2022 ist sie tragischerweise durch Russlands Oberstes Gericht verboten. Ich habe die Organisation gefragt, ob sie mir einen Kontakt zu Gulag-Überlebenden vermitteln können, die auch selbst schriftliche Zeugnisse verfasst haben. Ich wollte das, was die Menschen einmal aufgeschrieben hatten, mit dem vergleichen, was sie mir heute erzählen.

So lernte ich dann Lew und Swetlana kennen – aber auch weitere Überlebende. Die Geschichte all dieser Menschen gehört eigentlich jeweils in einen eigenen Roman. Das Besondere bei Lew und Swetlana war, sie haben neben dem, was sie erzählen konnten, noch einen absolut einzigartigen Schatz gehabt, nämlich einen Koffer voller Briefe.

 

Sie haben über 1200 Briefe hinterlassen.

Die beiden stammen aus sehr unterschiedlichen Familien, die aber beide großen Wert auf Bildung legten und wo Korrespondenz immer enorme Bedeutung hatte. So bin ich also auf diese Geschichte gestoßen. Dann hat es immer noch elf Jahre gedauert, bis ich angefangen habe, den Roman zu schreiben. Mich hat das alles nicht losgelassen.

 

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Naheliegend wäre wohl gewesen, ein Sachbuch zu schreiben. Was hat Sie dazu bewogen, aus dem Material einen Roman zu erschaffen? Er ist sehr nah an der Realität, aber dennoch gibt es einige fiktionale Elemente.

Ich habe gemerkt, dass mich neben dem, was sie erzählt hatten, immer stärker die Frage interessierte: „Wie haben sie es geschafft, diesen Lebenswillen zu behalten?“ Ich habe mit unterschiedlichen Überlebenden gesprochen, und darunter waren einige, die psychisch stark belastet waren, die sehr verbittert darüber klagten, dass das Leben ungerecht war.

Eine Psychoanalytikerin, selbst Kind von Holocaust-Überlebenden, erklärte mir, dass dies zwei typische Gruppen widerspiegelt: diejenigen, die für den Rest des Lebens gebrochen sind, und diejenigen, die einen unersättlichen Lebenshunger haben. Lew und Swetlana gehörten definitiv zu der zweiten Gruppe.

Ich habe gemerkt, dass dieses Thema für mich weniger ein wissenschaftliches ist als eines, bei dem es mir um die Erzählung geht. Ich wollte die Freiheit haben, die unterschiedlichen Schicksale, von denen ich erfahren habe, in eine in sich geschlossene Geschichte einzubringen.

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Familie Mischtschenko im Januar 2005 (v. l. n. r.): Lew, Anastasia, Swetlana und ihr Hund Primus

In Ihrem Roman heißt es an einer Stelle: „Die Fakten mögen stimmen, aber ohne unsere Erinnerungen sind sie wertlos.“ Sie wollten die Erinnerungen von Lew, Swetlana und anderen bewahren?

In der Korrespondenz zwischen Lew und Swetlana steckt wahnsinnig viel Liebe – das ist es, was ihnen Kraft gegeben hat. Es ist etwas anderes, lediglich die reinen Zahlen der in Petschora Gefangenen zu kennen, als wenn man die Gefühle der Protagonist:innen vermitteln kann, die einen Fluss sehen und dabei unweigerlich daran denken: In diesem Fluss sind sehr viele Menschen bei der Arbeit ertrunken oder anders ums Leben gekommen. Deswegen ist es wichtig, das zu erzählen.

Nicht ohne Grund unternimmt Russland nichts, um diese Zeugnisse zu bewahren. Diese Orte sollen aus der Erinnerung verschwinden, damit es keine emotionale Bindung mehr daran gibt, damit man eine neue Geschichte erfinden und erzählen kann, die diesem Regime besser passt.

 

Eine Aufarbeitung dieser Geschehnisse hat nie richtig stattgefunden?

Es gab eine kurze Rehabilitationsphase unter Chruschtschow. Er wirkte am stalinistischen Terror mit, hat aber nach Stalins Tod auch etwas versucht, was es bis dahin in der Sowjetunion nicht gab: Er wollte Aufarbeitung leisten – wurde dann aber ziemlich schnell abgestraft.

Die große Rehabilitierungswelle kam erst später, und Ende der 1980er-Jahre fand dann tatsächlich ein Aufbruch unter Gorbatschow statt, wo über diese sehr dunkle Vergangenheit endlich geredet wurde.

 

Das wurde bekannt unter dem Wort „Glasnost“?

Glasnost – Offenheit – bedeutet auch Klarheit oder Aufarbeitung. Als ich 2017 nach Petschora gereist bin, also in den Norden Russlands, wo Lew interniert war, sah ich Zeitungsausschnitte von Anfang der 1990er-Jahre, in denen es über das Lager dort vor Ort ging – die lokalen Medien begannen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Die Texte stammen oft von Nachfahren der Überlebenden oder von jemandem, der vielleicht auf der Repressions-Seite stand. Das ist oft nicht so klar getrennt, da gab es starke Vermischungen.

 

In Ihrem Buch geht es um Häftlinge, aber auch um Arbeiter und um Wachpersonal mit verschiedenen Charakteristiken. Sind diese Wachleute in gewisser Weise Opfer des Systems?

Es gab auch Leiter von solchen Lagern oder Personen, die am Repressionssystem mitgewirkt haben, die sehr schnell selbst auf der Anklagebank landen konnten. Das war normal. Das Lagerleben war vielschichtiger, als man es sich vorstellt.

 

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Die Geschichte von Lew beginnt als Kriegsgefangener in Deutschland. Er kehrt in die Sowjetunion zurück, wo er erneut verhaftet wird. Im Deutschland der Nazis fand er einen tschechischen Freund beim Wachpersonal. Auch in der Verbannung in Petschora gab es solche Leute beim Wachpersonal.

Lew sagte oft, dass er einfach auch sehr viel Glück hatte. Er hätte mehrfach für seine Entscheidungen erschossen werden können, was vielen anderen passiert ist. Als er einmal aus dem Lager floh, wurde er nicht hart bestraft, sondern in Deutschland aufgegriffen und wieder interniert, ohne dass ihm Konsequenzen drohten.

 

Auch Swetlana, die Ehefrau von Lew, ist Teil des Romans. Sie hat unter Gefahren Lew im Lager besucht und hat bis zuletzt zu ihm gehalten. Auch Jakob Israelitsch, ein ehemaliger Mithäftling, der in Petschora geblieben ist, prägt Lews Erzählungen. Die beiden alten Männer führen viele Gespräche miteinander. Sie stellen dem Historiker Alexander die Fragen: „Was willst du mit diesen Antworten? Wo willst du hin? Was soll das bringen?“

Eine solche Reaktion steht leider beispielhaft für dieses System, in dem die Menschen leben müssen. Die Sowjetunion war auf einem Opfermythos aufgebaut. Es zeigt sich auch eine direkte Verknüpfung zum heutigen Russland, unter Putin ist das noch extremer. Dieses System wertschätzt das Leben eines Menschen nicht als solches, sondern immer nur in einem Nutzen, den irgendwelche Oberen für sinnvoll halten. Viele Häftlinge waren sehr jung. Es waren Millionen Menschen, die zum Beispiel keine Familie gründen konnten. Und das alles mündet dann natürlich auch in so eine Aussage, „ja, was soll unser Leben schon wert gewesen sein?“. Und das ist natürlich etwas, was sehr traurig macht.

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Gedenkstein für die Opfer des Petschora-Lagers auf dem Friedhof der Stadt

Unter Putin hat sich die Situation verschärft. Es gibt den staatlichen Apparat, der ist extrem repressiv, aber auch sehr effektiv. Und das führt dazu, dass es schwer ist, sich öffentlich zu positionieren.

Sie haben recht, das ist sehr effektiv. Wenn man sich öffentlich positioniert, droht sofort die Verhaftung. Sei es nur, dass Sie sich mit einem leeren weißen Blatt hinstellen und es in die Luft halten – dann sind Sie in Gefahr. Und das ist das Abschreckungssystem.

Jetzt, in Kriegszeiten, ist es so, dass eine Art „innere“ Polizei gewinnt, denn wenn man aktiv Repression ausübt, wird man nicht an die Front versetzt, soll heißen, wenn man selbst unterdrückt, muss man nicht in den Krieg. Das ist eine perfide Situation.

 

Welche Hoffnungen verbinden Sie mit Ihrem Buch?

Ich versuche zu zeigen, dass es auch in den dunkelsten Stunden Hoffnung geben kann. Vielleicht ist die Quintessenz, dass dies geschieht, wenn es einen Menschen im Leben gibt, der im Selbst Hoffnung wecken kann. Das haben Lew und Swetlana gegenseitig für sich getan. Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Gulag-Insassen konzentrieren. Es waren Millionen von Familien, die Leid ertragen mussten, die zwar nicht im Lager waren, die aber gelitten haben, weil ihre Angehörigen leiden. Das ist ein völlig unerforschter Bereich, über den geredet werden muss.

 

Danke für dieses Gespräch.

 

Die Fragen stellte Jürgen Sander.

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Der Autor

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© peter-juelich.com

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Kind 1990 nach Deutschland. Er studierte Geschichte, Politik und Soziologie und war als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau tätig. Seit November 2022 arbeitet er für das digitale Medienhaus Table.Media. Funk lebt in Frankfurt am Main.