Game On-Generation
Der Roman Echtzeitalter von Tonio Schachinger wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2023 ausgezeichnet. Er erzählt darin so klug wie unterhaltsam von einer Jugend, die sich fluide zwischen den Medien bewegt und ältere Generationen herausfordert. Ein brillantes Porträt der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart.
Ein ganz bisschen ist Tonio Schachingers Erfolg auch der unsrige. Nicht, dass wir etwas dazu beigetragen hätten, zu diesem herrlich geschriebenen Roman,
dieser außergewöhnlich klugen Geschichte, in der es um nichts weniger geht als um die Frage, was heute und in Zukunft »Bildung« bedeuten soll. Aber gewünscht und richtig getippt hatten wir, dass Tonio Schachinger den Buchpreis gewinnen würde.
Am Freitag vor der Preisvergabe war nämlich Rainer Moritz bei uns, der Leiter des Literaturhauses Hamburg, Kritiker und literarischer Tausendsassa, der sich eigentlich nie irrt. Nachdem er aber seine Favoriten für den Buchpreis genannt hatte, warfen wir schüchtern ein, ob nicht vielleicht Echtzeitalter den Preis verdient hätte. »Vergessen Sie‘s!«, antwortete Moritz, und wir stellten fest, dass es eben keinen unfehlbaren Literaturpapst mehr gibt.
Was aber macht diesen Internatsroman über einen das Computerspiel Age of Empires 2 zockenden Jungen, der gemeinsam mit seinen Mitschülern unter dem Sadismus seines ohne Gnade am humanistischen Bildungsideal festhaltenden Lehrer leidet, so herausragend gut?
Wenn man in einem Computerspiel zu etwas fähig ist, sei es, Wände klein zu schlagen [...] oder als Parcoursläufer jedes erdenkliche Hindernis zu überwinden, kann es passieren, dass man in der Realität dieselben ganz konkreten Möglichkeiten sieht wie im Computerspiel.
In den Reaktionen auf den Buchpreis war zu hören, es handele sich bei Echtzeitalter zwar um ein gut geschriebenes Buch, jedoch fehle es ihm an Dringlichkeit, an politischer oder sonst wie gesellschaftlicher Relevanz. Das ist ein großes Missverständnis. Denn Echtzeitalter leistet viel mehr als nur die Vermittlung zwischen ahnungslosen Boomern und selbstverständlich gamenden und YouTube-guckenden Digital Natives. Es zeigt, wie sich durch die neue mediale Situation der Bildungsbegriff selbst komplett ändert, diversifiziert und verkompliziert. Ohne für die neue oder die alte Bildung Partei zu ergreifen, behandelt der Roman damit ein zentrales Thema der Gegenwart. Echtzeitalter hält die Spannung zwischen dem Alten und dem Neuen aus und dokumentiert eine Situation, in der völlig unklar ist, in welche Richtung die Entwicklung weitergehen wird. Wer sich also für Bildung interessiert, kann im Augenblick keinen dringlicheren Roman lesen.
Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandelt der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur.
Und dann kann er eben schreiben, der Schachinger. So gut, so lustig, so originell wie wenige. Till, so heißt der im Zentrum der Geschichte stehende Internatsschüler, wird mit herausragenden literarischen Mitteln gezeigt als ein typischer Vertreter jener Generation, die in der sich neu zusammensetzenden Welt ihren Platz finden muss. Die raffinierte Montage von Beschreibungen aus der Pixelwelt der Strategiespiele, aus Bildungsversatzstücken, die durchaus dazu geeignet wären, das eben Erzählte einzuordnen, wenn doch nur noch jemand über sie verfügen würde, und die schauerlichen Passagen über den eisern und intolerant an der alten Bildungsvorstellung klammernden Lehrer Dolinar sind höchst kunstvoll komponiert. Sie machen Echtzeitalter zu dem reifen Roman eines großen Erzählers, der uns hoffentlich noch viel Freude machen wird.
Pascal Mathéus ist Mitinhaber der Buchhandlung Wassermann in Hamburg-Blankenese
Der Autor
Tonio Schachinger, geboren 1992 in New-Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Sein erster Roman Nicht wie ihr wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.