Die weibliche Seite der Mafia
Mafia, die: Auch wenn das Wort eigentlich feminin ist, so ist die Vorstellung der Mafia nicht nur in der Popkultur durch und durch männlich geprägt. Dass in der Mafia aber auch Frauen eine entscheidende Rolle spielen, das erkundet der Experte Roberto Saviano lesenswert in Treue. Er erzählt von Geliebten, Clanchefinnen und zahllosen Opfern.

Al Capone, Pablo Escobar oder Don Corleone und dessen Söhne: Ob in Fiktion oder Realität, meistens sind es Namen von Männern, die genannt werden, wenn vom organisierten Verbrechen die Rede ist. Und doch wäre es falsch, Mafia, Cosa Nostra, Camorra und Co. nur unter einem männlichen Gesichtspunkt zu betrachten. Denn Frauen fällt oftmals eine entscheidende Rolle zu, wenn es um Fragen von Führung oder Zusammenhalt in kriminellen Organisationen geht.
Das zeigt der Mafiakenner Roberto Saviano, weltweit berühmt geworden mit seinem Mafia-Buch Gomorrha (2006), in seinem Sachbuch Treue eindrücklich, in dem er zwölf Geschichten von Frauen und ihrer Rollen im organisierten Verbrechen erzählt. Das Ergebnis sind Episoden, die von Kartellen in Lateinamerika wie auch von der Cosa Nostra oder der Mafia in Italien handeln. Es sind die großen, archaischen Themen Leidenschaft, Rache und Verzweiflung, um die sich Savianos Erzählungen drehen – in einer Welt, in der die Frau bis heute nicht das Geringste zählt.

So berichtet er von Mafiapaten, die in ihrem Begehren für eine Frau sprichwörtlich über Leichen gehen und dabei ihren Clan und das gesamte Vermächtnis aufs Spiel setzen, gar zerstören. Er erzählt von Männern, die beim Pokerspiel ihre eigene Frau als Pfand einsetzen. Ebenso blickt er auf das Schicksal der TikTok-Königin Sabrina Durán Montero, die zunächst als Clanchefin und dann im Gefängnis als Influencerin reüssierte, ehe sie im Alter von 24 Jahren auf den Straßen Chiles erschossen wurde.
Mal sind es Frauen, die von ihren Männern die Führung ihrer Clans übertragen bekommen, mal Frauen, die ausstiegen und ganze Mafiazweige zu Fall brachten. Anschaulich beschreibt Saviano die brutalen Konsequenzen der Mafialogik. Er, der ein Leben unter Polizeischutz führen muss und als Verräter gilt, greift sein eigenes Schicksal in Treue ebenfalls in einer Episode auf. Zudem ist die sogenannte „Minirock-Fehde“ Thema in Savianos Buch. Diese Fehde, die aus einem Flirt in einer Diskothek im Jahre 1997 entstand, führte zu einem blutigen Konflikt, der über zwanzig Jahre dauern und 86 Menschen das Leben kosten sollte.

Zu glauben, Frauen wären weniger brutal als Männer, ist unglaublich naiv.
Es sind ungeschönte Schilderungen wie diese, die die Brutalität der Mafia zeigen. Saviano verharrt dabei aber nicht allein im Erzählen von blutigen Anekdoten, sondern geht auch immer in die Tiefe und analysiert die dahinterliegenden Wertvorstellungen und den Kodex, der die Rolle der Frau in den unterschiedlichen Organisationen bestimmt. Mögen die Frauen von Mafiosi mal als Eigentum, mal als Objekt der Begierde betrachtet werden – oft hat ihr Handeln großen Einfluss, wie dieses Buch klar zeigt.
Wie schon in Savianos früheren Büchern besticht auch Treue durch viele Einsichten in die sonst so verschlossene Welt des organisierten Verbrechens. Die Rückständigkeit und die archaischen Ansichten über Frauen und sexuelle Minderheiten erschüttern. Immer wieder mischt sich Saviano kommentierend in die von ihm erzählten Geschichten ein und schafft ein thematisch wie auch literarisch interessant gestaltetes Panoptikum des Weiblichen in der Mafia. So ergänzt Treue den Blick auf das organisierte Verbrechen um eine ganz entscheidende Facette.
Marius Müller liest und schreibt in Augsburg auf seinem Blog Buch-Haltung.com
Der Autor
Roberto Saviano, geboren 1979 in Neapel, arbeitete nach dem Studium der Philosophie als Journalist. Gomorrha kam rasch nach Erscheinen auf die italienische Bestsellerliste und machte ihn schlagartig berühmt. Nach wiederholten Morddrohungen von Seiten der Camorra steht Saviano permanent unter Personenschutz und lebt seit vielen Jahren im Untergrund. Im Programm der Büchergilde erschien 2024 sein Roman Falcone.
Die Übersetzerinnen
Anna Leube übersetzte u. a. Bücher von Michael Ondaatje, Dolores Prato, Flannery O’Connor, Jean Rhys, Shirley Jackson, Claudio Magris, Umberto Saba, Alberto Savinio, Italo Svevo und Giovanni Verga.
Wolf Heinrich Leube übersetzte u. a. Bücher von Natalie Simon Davis, Alain Demurger und Paul Veyne.