Kollektive Intelligenz statt Künstliche Intelligenz
In ihrem Jubiläumsjahr blickt die Büchergilde in die Zukunft: Anlässlich des Büchergilde Gestalterpreises 2024 wagten sich 26 Nachwuchsgestalterinnen und -gestalter aus Halle daran, Virginia Woolfs Mrs. Dalloway zu illustrieren. Dabei setzten sie sich auch mit einem der großen Themen der Zeit auseinander: KI-generierte Bilder und Texte.
Die Uhr tickt. Auf dem Papier und im Arbeitsraum der Illustrationsklasse von ATAK. Hier im Hafengebäude des Design-Campus der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale warten an diesem Dienstagvormittag 26 Studierende ungeduldig auf den Beginn ihrer Präsentation. Reichlich Publikum hat sich eingefunden, um das Ergebnis einer Aufgabe in Augenschein zu nehmen, die Professor Georg Barber alias ATAK seinem Kurs im vergangenen Sommer gestellt hat: die Bebilderung von Mrs. Dalloway von Virginia Woolf. Die Idee dazu kam von der Büchergilde Gutenberg, die das Projekt im Rahmen ihrer Nachwuchsförderung, des zweijährig stattfindenden Büchergilde Gestalterpreises, an die Klasse herantrug.
Der Roman ist ein Schlüsselwerk des literarischen Modernismus, veröffentlicht 1925, also vor fast einem Jahrhundert, und das Geschehen ist im Jahr 1923 angesiedelt. Just in dem schmalen Zeitraum zwischen Handlungszeitpunkt und Erscheinungsjahr ist die Büchergilde Gutenberg gegründet worden: 1924. Zu deren hundertstem Geburtstag erscheint nun der literarische Klassiker Mrs. Dalloway, der von den Studierenden illustriert und ausgestattet wird. Doch im Jubiläumsjahr und beim Jubiläumsbuch ist so manches entscheidend anders.
War der 2000 begründete Gestalterpreis bisher immer mit einem Wettbewerb verbunden, zu dem die Studierenden wechselnder deutscher Illustrationsklassen eingeladen wurden, so wurde diesmal ein Gemeinschaftsprojekt angestrebt. Zu oft saß die Jury (der auch der Verfasser dieses Artikels zwei Mal angehörte) ratlos vor den eingereichten Buchentwürfen, weil zu viele preiswürdige Vorhaben dabei waren – und buchstäblich unvergleichliche. Auch ATAK hatte mit seinen Klassen schon mehrfach an diesem Wettbewerb teilgenommen und kannte die Konkurrenzkonflikte zwischen miteinander Studierenden, die sich doch oft im Vorfeld gegenseitig bei den Gestaltungen geholfen haben. Als erfahrener Buchillustrator weiß ATAK um das Herzblut, das bei solchen Beschäftigungen fließt, um den Angstschweiß und die Freudentränen. Diesmal sollten alle in der Klasse Gewinner sein, Illustration und Ausstattung von Mrs. Dalloway in kollektiver Anstrengung besorgt werden. Kein Wettbewerb also, sondern Arbeit an der gemeinsamen Aufgabe.
Zur Vorbereitung wurden eine Reihe von Arbeitssitzungen durchgeführt, die mit einem Lockerungsworkshop begann, den die Berliner Comiczeichnerin Aisha Franz als Gast leitete. In dessen Verlauf erstellten die Teilnehmer ein eigenständiges Buch mit dem Titel Dallas’ 10½ Stunden, in dem das Geschehen von Mrs. Dalloway – die chronologisch strenge Schilderung des Tagesablaufs einer Fünfzigjährigen vor einer abendlichen Party im eigenen Haus – auf eine junge Frau unserer Gegenwart übertragen wurde: Dallas erwacht um 9.30 Uhr und schließt um 20 Uhr ihre Vorbereitungen ab, um auf ihre Gäste zu warten. Jede halbe Stunde dieses Tages wurde auf jeweils vier Seiten von jeweils einer oder einem Teilnehmenden des Workshops in Bildern erzählt. Das Ergebnis ist ein zauberhaft grafisch vielstimmiger Comic, der als Kleinauflage in Siebdrucktechnik hergestellt wurde. Und dadurch sichtbar machte, wie ästhetisch reizvoll das Nebeneinander von individuellen zeichnerischen Handschriften sein kann.
Aber die Aufgabe bei Mrs. Dalloway war komplexer, denn hier könnte niemand eine mehrseitige Bilderstrecke ganz für sich allein haben, die unterschiedlichen Stile wären unmittelbar miteinander konfrontiert – und dazu noch mit dem Text von Virginia Woolf, der als weitgehender stream of consciousness innere Bilder seiner Protagonisten schafft, deren simple Umsetzung in Bilder der Subtilität des literarischen Verfahrens nicht gerecht werden würde. Zudem trennen die Studierenden nicht nur hundert Jahre von den Empfindungen von Autorin und Romanpersonal, sondern auch das für Letztere zentrale Erlebnis eines Zivilisationsbruchs: Mrs. Dalloway steht im Schatten des Ersten Weltkriegs. Und das Buch spielt in einem anderen Land. Deshalb schlossen sich im Laufe des Semesters Vorträge und Referate zur englischen Illustrationsgeschichte, Künstlerinnenpersönlichkeiten und dem Bloomsbury-Kreis, dem Virginia Woolf angehörte, an, um die konkreten Illustrationsbemühungen zu begleiten.
Niemand von den 25 Studierenden ging im Laufe dieses intensiven Arbeitsprozesses von der Stange, und Ende November 2023 konnte eine erste Zwischenpräsentation stattfinden, an die sich dann noch eine zweimonatige Phase bis zur endgültigen Gestaltung anschloss. Schon bei dieser ersten Gelegenheit zur Inaugenscheinnahme zeigte sich, dass die provozierende Subjektivität der Woolf'schen Erzählhaltung eine produktive Inspiration ausgelöst hatte. Die ersten Illustrationsvorschläge boten keine bloße Bebilderung, sondern leuchteten durch eigenständig fantasievolle Motiv- und Stilwahl das Romangeschehen aus.
Die Büchergilde hatte ursprünglich angeregt, auch die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz ins Illustrationskonzept einzubeziehen, aber es stellte sich rasch heraus, dass KI hier eher als Kollektive Intelligenz zum Zuge kommen würde. Jede oder jeder Studierende hatte sich zunächst Lieblingsstellen aus dem Roman zur Illustration ausgesucht, und da es dabei angesichts der großen Gruppe zu diversen Überschneidungen kam, wurden danach in einem zweiten Arbeitsschritt parallele Bildlösungen zueinander in Beziehung gesetzt, wodurch ein dynamischer Prozess in Gang kam, in dessen Verlauf die Studierenden auf die Arbeiten der anderen reagierten. Ganz organisch erfolgte damit auch der Verzicht auf erste Vorschläge, und es ergaben sich sowohl Motivcluster, die später als mehrseitige Illustrationsfolgen ins fertige Buch aufgenommen werden sollten, als auch Einzelillustrationen. Die anfängliche Idee, neben ganzseitigen Illustrationen auch Vignetten in den Text zu integrieren, wurde wieder aufgegeben. Trotzdem entstanden bis zur Abschlusspräsentation Ende Januar mehr als 250 Bilder, die von den Studierenden selbst auf rund 135 reduziert wurden. Kein bisheriges Buch dieser Büchergilde-Reihe hat auch nur annähernd eine derart reiche illustrative Ausstattung erfahren. Alle Beteiligten sind mit mindestens zwei Arbeiten darin vertreten.
Dazu kam natürlich noch die Buchgestaltung: Orientiert am Format der englischen Erstausgabe der Hogarth Press aus dem Jahr 1925, setzt die Büchergilde-Ausgabe von Mrs. Dalloway selbst gegenüber deren bibliophiler Ausstattung noch neue Glanzpunkte. Etwa durch die Verwendung von zwei unterschiedlichen Schrifttypen – GT Alpina und ABC White, die eine mit, die andere ohne Serifen –, die sich jeweils dann abwechseln, wenn im Text einer der kontinuierlich über die Romanhandlung verteilten Stundenschläge erwähnt wird. Auf Seitenzahlen wird diesmal im Buch verzichtet, stattdessen sind am Seitenfuß mittig kleine Ziffernblätter zu finden, die die jeweils im Erzählverlauf erreichte Uhrzeit wiedergeben. Der Satzspiegel flattert, als könnte er nicht in ein festes Schema gezwungen werden – so, wie auch der Roman von Virginia Woolf der Kunstform Literatur neue Freiheit verschafft hat. Und den Hallenser Studierenden jetzt die Freiheit, ein Buchobjekt zu konzipieren, das seinesgleichen nicht so schnell finden wird.
Und da diese Mrs. Dalloway tatsächlich so etwas ist wie eine Unabhängigkeitserklärung, nicht nur gegenüber KI, sondern eben auch gegenüber der Konvention, seien hier alle 25 Namen genannt, die mitgezeichnet und -gestaltet haben, aufgelistet gemäß der Reihenfolge, in der sie an jenem Dienstagmorgen dann dem staunenden Publikum ihre Illustrationen präsentiert haben: Miriam Wiskemann, Camilla Mücksch, Merle Henkel, Bea Dietel, Anna Neumann, Daphne Croissier, Hyelin Kim, Anna Rosa Rupp, Luisa Baiocco, Mi Ran Cho, Julia Klenovsky, Hannes Birkholz, Toni Grabolle, Pascal Maurer, Nina Pieper, Lélou Sprachta, Katja Ulbrich, Hannah Krüger, Emma Loesekraut, Maite Schönherr, Philip Bellmann, Antonia Stakenkötter, Marie Ehrentraut, Leonard Hoffmeister, Alexander Esser. Und mitgestaltet hat noch Elia Kim Schick. Nun tickt die Uhr, nicht nur im Roman auf dem Papier, sondern auch real: Wenn Mrs. Dalloway erscheint, beginnt ein neuer Abschnitt der Buchgestaltungsgeschichte.
Von Andreas Platthaus
Die Autorin
Virginia Woolf (1882–1941) gründete 1917 zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 das Leben.
Die Illustrator:innen
26 Studierende der Illustration der Burg Giebichenstein Kunsthochschule, unter Anleitung von Dozent und Künstler ATAK.
Die Übersetzerin
Melanie Walz, geboren 1953 in Essen, wurde 1999 mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium, 2001 mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis und 2015 mit dem Übersetzerpreis der Stadt München ausgezeichnet. Sie ist die Übersetzerin von u. a. Antonia Byatt, John Cooper-Powys und Lawrence Norfolk.