Vom Himmel durch die Welt zur Hölle


Autor Uwe Wolff im Büchergilde-Interview

In seiner abwechslungsreichen Anthologie Engel beleuchtet Engelexperte Uwe Wolff bekannte wie überraschende Nuancen der ätherischen Wesen, von Burn-out über Fußball zu Pentagramm und Segen. Wo es unterhaltsam, heilig oder ganz ernsthaft wird, erzählt er im Interview.

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Herr Wolff, was ist ein Engel? Oder doch wer?

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sind Engel untrennbar mit dem Schicksal des Menschen verknüpft. Engel sind Lebensbegleiter von der Geburt bis zum Tod.

In Schlüsselerlebnissen, in Krisen und Konflikten, Liebe und Leid, in den kleinen Wundern am Wegesrand, den stillen Momenten des Glücks, den großen ästhetischen Erlebnissen, wie sie in der Literatur, der Kunst oder Musik verdichtet sind, sind Engel gegenwärtig.

Wenn ich in meinem Buch vom Wesen und Wirken der Engel erzähle, dann spreche ich vom Menschen. Mensch und Engel bilden eine Einheit. Engelforschung (Angelologie) ist daher Biografieforschung.

 

Was sehen verschiedene Kulturen, Religionen und Glaubensrichtungen in Engeln?

Die großen Weltreligionen unterscheiden sich in vielen Aspekten, aber in der Frage der Engel sind sich alle einig: Engel sind Boten Gottes, Mittler zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Schöpfung. Ihr Ursprung liegt im Judentum, wie die bekannten hebräischen Engelnamen Gabriel, Michael oder Raphael beweisen.

Christentum und Islam haben die jüdische Vorstellung von den Engeln und Schutzengeln übernommen. Kirchenväter wie Dionysios von Areopagita und -mütter wie Hildegard von Bingen haben die Engelvorstellungen zu dem Bild der himmlischen Chöre systematisiert. Darunter verstanden sie eine heilige Ordnung oder Hierarchie. Aus ihr hat sich die kirchliche Hierarchie entwickelt.
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Illustration von Sebastian Rether

 

Engelfiguren entstanden also in religiösen Kontexten. In welche Bereiche sind sie mittlerweile transzendiert?

Das Bild der jubelnden Engelchöre beeinflusste die abendländische Musik, die Kunst und die hohe Dichtung wie Rilkes Duineser Elegien.

Der in den drei Geschwisterreligionen Judentum, Christentum und Islam bezeugte Glaube an den Schutzengel hat das Bild vom Menschen geprägt. Der Schutzengel gilt als unsichtbarer Seelenbegleiter seines Menschen. In der Stimme des Gewissens, in den Folgen des Tuns, in ästhetischen Erlebnissen – in allem Irdischen kann seine Stimme erklingen.

Deshalb spielen Engel heute eine wichtige Rolle bei allen psychologischen Fragen nach der Identität des Menschen. Sie stehen für das noch unentdeckte kreative oder intellektuelle Potenzial, für Resilienz und Ressourcen, Kompetenzen und alles, was wir nicht selbst geschaffen haben, was aber in uns angelegt ist, wachsen und wirken will in unserer Lebenszeit. In einer noch durch das Christentum geprägten Gesellschaft sprach man von den anvertrauten Talenten. Über sie wacht der Engel.

Über Wesen und Wirken der Engel gibt es große Kontroversen. Gibt es sie wirklich? Sind sie Symbole? Stehen sie für seelische Ersatzreserven? Sind sie pure Einbildung? Und weiter: Haben Engel ein Geschlecht? Welche Sprache sprechen sie? Welche Hautfarbe haben sie? Geht ihnen manchmal bei ihrem Engeldienst die Puste aus? Sprechen sie immer die Wahrheit? Kennen sie Freizeitvergnügungen? Jede Frage nach dem Engel ist eine Frage nach dem Menschen.

Uwe Wolff

„Engel“ rufen im Alltag direkt diverse Assoziationen hervor, z.B. Schutzengel, Weihnachten, ADAC, aber schnell auch: irgendwie esoterisch! Warum ist das eigentlich so?

Mit Engel habe ich endlich den Plan eines modernen Engelbuches umgesetzt. Zu ihm gehört auch der Rückblick auf einen Esoterik-Hype, der die Boten der Anderwelt mit Kursen zur Kontaktaufnahme von Engeln, Engelorakeln und Engelkarten vermarktete. Diese Kommerzialisierung der Engel ersetzte die bedeutende Stellung, die Engel und Schutzengel einst in der Kirche gehabt hatten. Sie war also auch Ausdruck eines Mangels an Mystik, die ja den Kern jeder Religion ausmacht.

Engel berühren das Geheimnis eines Lebens. Sie sind die Streetworker Gottes und arbeiten selbstverständlich für Gotteslohn. Damit macht man keine Geschäfte.

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Trotz ihrer Flügel entkamen Engel also dem Kapitalismus nicht, wurden zu kitschigen Figürchen und für esoterische Praktiken gekapert. Was sagt das über unsere Gegenwart?

Die Kirche hat sich seit den 1950er-Jahren in die Randlage der Bedeutungslosigkeit manövriert. So musste sich die Sehnsucht nach Heil und Heilung an Leib und Seele einen anderen Ort suchen. Die Mysterien werden nicht mehr am Altar zelebriert, sondern im Tempel des eigenen Ichs. Die Beichtstühle sind verwaist, aber das Sündenbewusstsein ist drängender denn je.

Engel aber sind immer umsonst, pure Zuwendung, reine Gnade, Geschenk des Himmels. Schon im alten Judentum treten sie auf, wenn der offizielle Kult in eine Krise geraten ist. Engel sind Hoffnungsträger. Sie bilden das Gegengewicht zu den Katastrophenmeldungen, die uns jeden Tag über die Medien erreichen.

 

Ein guter Punkt: Ihr Buch führt Texte und Gedanken zu gegenwärtigen Begriffen wie Klimakrise und -proteste, Fake News, Fußball, Transgender, Burn-out auf … Wie sind diese mit dem „Phänomen Engel“ verbunden?

Über Wesen und Wirken der Engel gibt es große Kontroversen. Gibt es sie wirklich? Sind sie Symbole? Stehen sie für seelische Ersatzreserven? Sind sie pure Einbildung? Und weiter: Haben Engel ein Geschlecht? Welche Sprache sprechen sie? Welche Hautfarbe haben sie? Geht ihnen manchmal bei ihrem Engeldienst die Puste aus? Sprechen sie immer die Wahrheit? Kennen sie Freizeitvergnügungen?

Jede Frage nach dem Engel ist eine Frage nach dem Menschen. Im Wandel der Bilder von Engeln spiegelt sich die Wandlung des Bildes vom Menschen. Deshalb ist die Geschichte der Engelvorstellungen zugleich eine Kulturgeschichte des Menschen. Dies gilt besonders für die großen, oft unlösbar erscheinenden Fragen unserer Zeit.

Der Klimawandel zum Beispiel betrifft ja auch die geistige Ökologie und das kulturelle Erbe der Menschheit, von dem viel auf der Roten Liste steht. Ich führe also, im Bild gesprochen, die Engel auf den Klimagipfel von Davos und in die LGBTQ*- Kommunitäten. Hier eröffnen sie neue Horizonte.

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Engel blicken immer optimistisch in die Zukunft. Das sollten wir auch. Die Botschaft der Engel lautet „Fürchtet euch nicht!“ und nicht „I want you to panic!“. Wir sind nicht allein. Das bezeugen nicht nur die großen Weltreligionen, sondern die Kulturgeschichte.

Uwe Wolff

Mit welchen Stichworten und Beiträgen werden die Leserinnen und Leser in Engel bestimmt nicht rechnen, die aber für Ihr Buch unverzichtbar waren?

Engel erscheinen immer plötzlich und unerwartet. Sie markieren eine Wende, einen Funken Hoffnung, einen Impuls zum Aufbruch, eine Ermunterung, Glaube, Liebe und Hoffnung zu wagen. Deshalb habe ich den Artikel „Ukraine“ geschrieben. Er nimmt auf eine Erscheinung des Engels Michael zu Beginn des schrecklichen Angriffskrieges Bezug. Wichtig war mir auch der Artikel „Volk eines Engels“. So werden die Jesiden genannt, die in ihrer Heimat wegen ihres Engelglaubens vom IS grausam verfolgt werden.

Weil Engel aber die ganze Spanne des Lebens berühren, durften Fest und Feier mit den Artikeln „Ernährung“ und „Hofbräuhaus“ nicht fehlen. Engel sind „Queerdenker“. Sie verbinden höchst unterschiedliche Bereiche unseres Lebens. Deshalb hat ihr Erscheinen in ungewöhnlichen Kontexten wie dem Fußball nicht nur etwas Überraschendes, sondern zutiefst Erheiterndes. Natürlich durfte auch „Pippi Langstrumpf“ nicht fehlen. Sie ist die Tochter eines Engels.

Das Buch führt also im Spiegel der Engel durch das ganze Leben in seiner Herrlichkeit und Schönheit und seiner zuweilen unerträglichen Dunkelheit und Widersprüchlichkeit, es durchschreitet den ganzen Kreis der Schöpfung, wie es in dem Faust-Zitat heißt, das ich dem Buch vorangestellt habe.

Engel ist ein Hausbuch voller Informationen und Inspirationen – auch für Eltern und Großeltern, Onkel und Tanten und für Kinder, die im Engel einen geduldigen „Schulbegleiter“ finden.

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Illustration von Sebastian Rether

Wo Sie es erwähnen: In Goethes Faust wird ein Pakt mit dem Teufel geschlossen, und immer wieder gibt es die sogenannten Teufelsbündler. Warum wirken dunkle Mächte so verlockend, vielleicht sogar in Extremsituationen anziehender als Lichtgestalten?

Zum Engel gehört der gefallene Engel, zum Guten das Böse, zur Harmonie die Disharmonie, zum Licht der Schatten. Diese Kräfte in eine Balance zu bringen gehört zu den Aufgaben der Erziehung in Familie und Bildungseinrichtungen. Das gelingt nicht immer. Schon ein harmloser Druckfehlerteufel stört die Harmonie des Lesegenusses.

Mein Buch Engel nimmt in vielen Artikeln Bezug auf die dunklen Mächte etwa in der Unterhaltungsmusik und die Lust am Bösen als Freude an der Rebellion und am Widerspruch. Es bleibt gelassen und malt nicht gleich den Teufel an die Wand, wenn Mick Jagger noch mit 80 Jahren seine Teufelshymne „Sympathy For The Devil“ singt.

Doch gibt es ein Böses, das uns erschaudern lässt. Deshalb berichte ich in dem Artikel „Moskau“ über die Diktatur des Stalinismus, die Michail Bulgakov in seinem Roman Der Meister und Margarita beschreibt. Der Glaube an die Engel ist der Glaube an das Gute, aber er verharmlost nicht die Macht des Bösen. Sie zeigt sich überall, auch in der Kirche, weshalb der Artikel „Missbrauch“ nicht fehlen durfte.

 

Mögen Sie eine Prognose für die Zukunft der Engel abgeben?

Engel blicken immer optimistisch in die Zukunft. Das sollten wir auch. Die Botschaft der Engel lautet „Fürchtet euch nicht!“ und nicht „I want you to panic!“. Wir sind nicht allein. Das bezeugen nicht nur die großen Weltreligionen, sondern die Kulturgeschichte.

Gelassenheit ist die schönste Engeltugend. Sie strahlt auch das Buch Engel aus – nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern an jedem Tag des Jahres.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Die Fragen stellte Marlen Heislitz.


Der Autor

Uwe Wolff © Undine Wolff.JPG

Uwe Wolff, geboren 1955 in Münster, ist Schriftsteller, Theologe und Kulturwissenschaftler und als Privatdozent am Institut für Literaturwissenschaft und literarisches Schreiben der Universität Hildesheim tätig. Das Phänomen Engel und alles, was es darüber zu wissen gibt, ist sein Lebensthema. Uwe Wolff lebt in Bad Salzdetfurth.


Der Illustrator

Sebastian Rether © Privat.png

Sebastian Rether, geboren 1985, zeichnet für Magazine, Designagenturen und Unternehmen. Bei der Büchergilde erschien seine Graphic Novel Foc – Feuer, die 2017 von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten deutschen Bücher ausgezeichnet wurde. Er lebt und arbeitet in Hamburg.


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