Vom Überleben in unruhigen Zeiten
Andrej Kurkow über seinen neusten Roman Samson und Nadjeschda und wie sich seine Rolle als ukrainischer Autor seit Kriegsbeginn verändert hat
Der Schriftsteller Andrej Kurkow ist zu einem Chronisten des Krieges geworden, der uns hilft, die Ukraine besser zu verstehen. Sein Roman Samson und Nadjeschda erzählt von einem jungen Kyjiwer Polizisten, der mitten im Revolutionsjahr 1919 einen Mörder sucht und die Liebe findet.
Ihr Roman Samson und Nadjeschda spielt 1919 in Kyjiw, es herrscht Bürgerkrieg, die Bolschewiki kämpften gegen die Weiße Armee. Wie muss man sich das Leben zu dieser Zeit in der Ukraine vorstellen?
Es gab fünf Armeen, die gegeneinander kämpften während dieses Kriegs. Die Bolschewiki haben vier Mal versucht, die Ukraine zu okkupieren, und nach vier Jahren des Krieges, 1921, haben sie es geschafft. Aber natürlich war die Gesellschaft dann sehr geschwächt. Die Situation war dramatisch, denn vor 1917 war Kyjiw wie das ganze Königreich eine Klassengesellschaft mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Jeder hatte eigene Interessen und Ängste.
Ich wollte diese Situation in meinem Roman zeigen, aber auch eine Parallele aufzeigen zu dem, was heute passiert. Denn heute kämpft eine neue Rote Armee gegen die ukrainische Unabhängigkeit, mit der gleichen Gewalt. Und Kyjiw wird zum Beispiel von der gleichen nordöstlichen Seite angegriffen, im Februar 2022 genau wie 1918. Und diesen Oktober wurden die gleichen Straßen wie im Jahr 1918 bombardiert. Wir haben hier eine Wiederholung der Geschichte. Die Gesellschaft heute ist konsolidiert und die Ukrainer heute erkennen, wer der Feind und wer die Partner sind, die helfenden Länder.
Sie haben das Buch schon lange vor der Eskalation des Krieges geschrieben. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen und warum wollten Sie über diese Zeit erzählen?
Ich bin schon immer geschichtsinteressiert gewesen und habe schon einmal eine Geschichte geschrieben, die 1918 beginnt, die Trilogie Geografie eines einzelnen Schusses.
Doch bei Samson und Nadjeschda war es so: Im Jahr 2017, nachdem ich gerade den Roman Graue Bienen beendet hatte, erhielt ich einen Telefonanruf von einer Leserin. Sie sagte, sie habe ein Geschenk für mich. Dann kam sie mit einer Kiste zu mir, die voll war mit Original-Akten der Bolschewikischen Geheimpolizei. Alle Fälle, die in diesen Akten beschrieben waren, stammten aus den Jahren 1919, 1920 und 1921, alles war handgeschrieben – es waren echte Papiere. Ich war sofort fasziniert von dem Ganzen, von diesen Geschichten. Und so entschied ich mich, eine Reihe von Romanen über diese Zeit zu schreiben.
Samson, die Hauptfigur, muss gleich zu Beginn des Buchs mitansehen, wie sein eigener Vater umgebracht wird, ihm selbst wird das Ohr abgeschlagen. Dann wird er mit der neuen Macht konfrontiert, in seiner Wohnung werden Rotarmisten einquartiert, Möbel werden beschlagnahmt ... Wie schafft er es denn, in diesen schwierigen Zeiten seinen Weg zu finden und sich trotz allem seine Gelassenheit zu bewahren?
Samson will überleben. Er ist allein, seine Mutter und Schwester sind bereits früh an Krankheiten verstorben, und in ihm bleibt aber der Wille weiterzuleben, er sucht seinen Weg. Praktisch zufällig wird er zum Polizeiermittler. Samson tut, was er für korrekt und richtig hält. Und er hat Probleme mit der Tscheka, der Geheimpolizei. In dieser Zeit änderten sich die Machtverhältnisse in Kyjiw alle drei bis fünf Monate, es gab keine Stabilität. Doch oft wurden die Polizeikräfte von der jeweils herrschenden Macht angefragt, weiterzuarbeiten und weiter die Kriminalität zu bekämpfen. Denn die chaotischen Verhältnisse blieben weiter bestehen, egal, wer gerade an der Macht war.
Welche Rolle spielt Nadjeschda, die im Amt für Statistik arbeitet, für Samson?
Nadjeschda ist eine typische junge Frau dieser Zeit. Sie kommt aus dem unteren Stadtteil Kyjiws, aus Podil, am Fluss gelegen. Samson wohnt im oberen, auf einem Hügel gelegenen, eher aristokratischen Teil der Stadt. Podil hingegen ist ein jüdisch geprägter Stadtteil, dort leben Menschen mit weniger Geld, viele einfache Arbeiter. Nadjeschda akzeptiert die neue Arbeiter-Macht und schätzt das Ganze sogar positiv ein, denn viele junge Leute waren auch von den kommunistischen Ideen fasziniert.
Sie ist eine junge, starke Frau, stärker sogar als Samson. Sie leben zusammen und helfen einander. Ihre Beziehung ist nicht einfach, da sie aus verschiedenen Bevölkerungsschichten beziehungsweise Klassen stammen. Ich wollte mit den beiden Figuren zwei typische Personen der damaligen Zeit zeigen, die entscheiden mussten, wie mit den neuen Verhältnissen, mit den neuen Regeln für ihr Leben, umzugehen ist.
Bei seinen Ermittlungen kommt Samson etwas Ungewöhnliches zu Hilfe, da er bemerkt, dass er mit seinem abgetrennten Ohr weiter hören kann, er kann damit sogar andere Personen belauschen. Wie kamen Sie darauf, solch ein fantastisches Element in den Roman einzubauen? Und warum gerade dieses?
Ich denke, ich habe so viele „medizinische Fantasien“ in meinen Romanen, weil meine Mutter und Großmutter Ärztinnen waren. Meine Großmutter war in Kriegszeiten Chirurgin, und ich lebte als Kind sechs Jahre bei ihr. Sie besaß eine große medizinische Bibliothek, mit vielen qualitativ hochwertigen Büchern, in denen wunderschöne und schreckliche Illustrationen zu finden waren. Die Qualität der Abbildungen in dieser Fachliteratur war viel besser als die in meinen Kinderbüchern.
Dieses Element, das Ohr, ist also quasi der Einfluss meiner Kindheit auf mein Schreiben. Das verstand ich für mich selbst aber auch erst vor etwa fünf Jahren, als ich mich einmal fragte, warum ich eigentlich so viele medizinische Anspielungen in meinen Geschichten habe ...
Der erste Fall, den Samson untersucht, nachdem er Polizeiermittler geworden ist, ist der Mord an einem Schneider. Er stürzt sich mit sehr viel Tatendrang in die Ermittlung, und man fragt sich, warum Samson das tut, anders als seine skeptischen Kollegen. In einer Zeit, in der so viel Mord und Verbrechen in der Stadt geschehen.
Samson ist noch ein Anfänger und will unbedingt die Ermittlung an diesem Fall erfolgreich beenden. Er will den Fall verstehen und durchdringen, um sich selbst zu beweisen, dass er es schaffen kann. Daher bedeutet dieser Fall ihm viel mehr als anderen. Ist das vielleicht auch ein Versuch, sich einen Moment von Sicherheit zu schaffen, in diesen unsicheren Zeiten? Ja, durch die Beschäftigung fällt es ihm leichter, andere Dinge, die geschehen, zu ignorieren und sich weniger von ihnen beeinflussen zu lassen.
Die Leute kennen nur Dostojewski, Tschechow, Turgenjew – also die russischen Klassiker. Das heißt, wenn Leser heutige ukrainische Literatur konsumieren, kommt diese Literatur für sie aus einem russischen Kontext, nicht aus einem ukrainischen.
Wie sehen Sie denn Ihre Rolle als Schriftsteller im Moment? Ist Schreiben auch eine Waffe im Kampf gegen die russische Aggression? Oder fühlen Sie sich eher als Beobachter?
Ja, jeder ist Beobachter. Ich bin zurzeit eher journalistisch beschäftigt, ich schreibe viel für die Presse darüber, was in der Ukraine geschieht, zum Beispiel für The Guardian oder die Financial Times, Die Welt, Die ZEIT, New York Times und so weiter. Ich mache Rundfunk-Sendungen für die BBC 4 und BBC World. Seit dem Kriegsbeginn kann ich keine Literatur mehr schreiben.
Ich denke, das ist meine Aufgabe im Moment: Mehr Informationen über die Ukraine zu verbreiten, viel zuzuhören, zu lesen und zu erklären, was passiert, was die Gründe für den Krieg waren. Und auch, die ganze Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen der letzten Jahre zu beleuchten. Es war schon immer ein Kampf von Russland gegen eine ukrainische Identität, die ukrainische Kultur und die ukrainische Sprache.
Denken Sie, dass es im Moment die richtige Zeit ist, noch Romane zu lesen? Was kann helfen, die momentane Lage zu verstehen?
Ich denke, es ist wichtiger, Sachbücher über die Situation in der Ukraine zu lesen. Wenn man bereits ein, zwei Bücher über die Ukraine gelesen hat, zum Beispiel von Timothy Snyder, Serhii Plokhy oder Anne Applebaum – dann kann man wieder zur Literatur zurückkehren.
Es ist auch interessant, dass es fast keine klassische ukrainische Literatur in deutscher Übersetzung gibt. Die Leute kennen nur Dostojewski, Tschechow, Turgenjew – also die russischen Klassiker. Das heißt, wenn Leser heutige ukrainische Literatur konsumieren, kommt diese Literatur für sie aus einem russischen Kontext, nicht aus einem ukrainischen. Aber das kann man nicht ändern ohne den Einsatz deutscher Verlage.
Immerhin können LeserInnen mit der Lektüre von Samson und Nadjeschda etwas lernen über die Geschichte der Ukraine, die ja, wie Sie sagen, im deutschen Kontext bisher vernachlässigt wurde. Zum Abschluss meine Frage: Könnten Sie sich vorstellen, einen Roman über den aktuellen Krieg zu schreiben?
Nein – ich will nicht! Es gibt schon Hunderte Romane über Kriege, über Soldaten, Helden und Anti-Helden und so weiter. Graue Bienen handelt schon fast eher zufällig vom Krieg. Aber für mich sind die Geschichten der Leute – nicht der Soldaten oder des Krieges – viel wichtiger. Die Soldaten kämpfen und wissen, wofür sie das tun. Aber wenn du in einem Haus lebst und der Krieg einfach so zu dir kommt und du dich entscheiden musst, ob du das Haus verlässt oder bleibst, und vielleicht getötet wirst – das ist etwas anderes, viel schrecklicher, als an einem Kampf teilzunehmen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kurkow!
Das Interview wurde auf Deutsch geführt. Die Fragen stellte Norma Schneider.
Der Autor
Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kyjiw und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen, war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit seinem Roman Picknick auf dem Eis gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Autoren. Zuletzt erhielt er für Tagebuch einer Invasion den Geschwister-Scholl-Preis. Kurkow lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in der Ukraine.
Die Übersetzerinnen
Sabine Grebing und Johanna Marx übertrugen bereits zahlreiche Romane Andrej Kurkows ins Deutsche. Grebing ist Teil des Übersetzerkollektivs „Hammer & Nagel“.