Was hält die Welt zusammen?


Arnold Mario Dall'O im Interview zur Entstehung von Mein Handatlas

Der Südtiroler Künstler Arnold Mario Dall’O schafft mit Mein Handatlas ein triadisches Gesamtkunstwerk: Hundert historische Landkarten, bedruckt mit hundert Grafiken, gerahmt von hundert Erzählungen über die Welt. Seine individuelle Erklärung der Welt spannt sich von politischen Themen über persönliche Momente bis zu unterhaltsamen Anekdoten.

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Landkarten dienen im Allgemeinen dazu, etwas Überkomplexes so weit zu abstrahieren, dass es begreifbar wird. Mir gefällt, dass du diesen Aspekt eines „normalen“ Atlas aufbrichst, indem du in Mein Handatlas deine Kunst über die Topografien der Welt legst. Das regt zum Nachdenken an, über die Temporalität und vermeintliche Objektivität von Atlanten, über menschliche Ordnungen. Wie steht es denn um deine persönliche Ordnungsliebe?

Ich bin eigentlich, für einen Künstler untypisch, sehr geordnet. Ich habe ein sehr großes Atelier, und BesucherInnen wundern sich immer, wie ordentlich es in meiner Werkstatt ist. Arbeiten, die ich fertiggestellt habe, kommen in ein Lager, die will ich gar nicht mehr sehen. Ich muss immer wieder für mich Ordnung schaffen. Vielleicht ist das mein Versuch, die Welt für mich zu ordnen. Mein Handatlas ist entstanden, um eben dieses eigenartige „Ding“ Welt für mich greifbar zu machen. Wir leben alle auf diesem Globus und fragen uns: Wie funktioniert das alles, was hält die Welt zusammen? Was ist wichtig? Was ist für mich wichtig, fürs Überleben? Aus dieser Überlegung entstand das Projekt.

 

Während der Pandemie fiel dir bei einer dieser „Aufräumereien“ eine Ausgabe des Stielers Hand-Atlas in die Hände, der Grundlage und Werkmaterial für deinen Handatlas bildet. Was hat dich genau an diesem Buch inspiriert?

In der Zeit der Ausgangssperre habe ich mein Leben in mein Atelier verlegt, habe dort auch geschlafen. Es gab kaum E-Mails, weniger Telefonate und Aufträge. In dieser komischen Situation fragte ich mich, was könnte ich jetzt tun? Und ich glaube, wie viele andere auch, habe ich begonnen aufzuräumen.

Dabei fand ich eben diesen Stielers Hand-Atlas von 1906 in meinem Archiv wieder. Ich hatte ihn mal auf einem Flohmarkt erstanden. Ich kaufe gerne gebrauchte Bücher, ich möchte sie „retten“, damit sie nicht vergessen werden. Ich entschied mich relativ schnell, einzelne Karten aus diesem Atlas zu entnehmen und etwas damit zu machen, das war die Grundidee. Ich gebrauche oft benutztes oder beschriebenes Papier für meine Arbeit, als Medium, um darauf zu malen, zu zeichnen und so weiter. Ich lege eine zweite Schicht auf, das tue ich in meiner künstlerischen Tätigkeit immer wieder.

 

Marlen Heislitz und Arnold Mario Dall'O im Gespräch

Wie war dein Herangehen, wie kamen Text und Bild zusammen?

Ich schlug in dem alten Atlas eine Landkarte auf und schaute mir das an, las Ortsnamen, dachte, wo warst du mal oder was könntest du hier erlebt haben, also ein freies Assoziieren. Ich bin relativ viel gereist, da funktionierte das gut, aber zu einigen Ländern musste ich recherchieren, unter anderem zu Australien oder den Südseeinseln. Aus diesem Assoziieren entwickelte ich sowohl meine Druckmotive als auch die Textideen. Landkarte, Linoldruck und Erzählung ergeben eine Einheit. Nicht immer, aber sehr oft spiegelt der Linolschnitt die Erzählung wider, manchmal verfremdet oder abstrahiert, manchmal ironisch oder mit Witz, frei und künstlerisch, aber es gibt meist eine direkte Verbindung. Bei einigen hatte ich zuerst das Bild im Kopf und habe dann den Text geschrieben, und manchmal war es umgekehrt.

 

Wie war es für dich, statt Bildern nun Texte zu verfassen?

Es entstand die erste halbwegs gute Geschichte, eine zweite, dann die dritte ... Und so überlegte ich, ob es denkbar wäre, wirklich alle 100 Karten des alten Buchs zu gebrauchen, um eine neue Geschichte darüberzulegen. Ich habe völlig unterschätzt, wie viel Arbeit das ist.

Im Grunde habe ich auch zum ersten Mal richtig geschrieben! Ich schreibe eigentlich recht gerne, nur, für ein Buchprojekt zu texten, das ist schon was anderes. (lacht) Daher hatte ich auch Unterstützung von einem Redakteur, wir besprachen uns, und er brachte das Ganze in Form. Natürlich ist der Handatlas ein individueller Zugang. Aber ich wollte keine Lesart vorgeben und versuchte, mich so gut wie möglich zurückzunehmen. In den Geschichten gibt es nichts klar definiertes Böses und Gutes. Es soll jeder selbst für sich bewerten, wie er dazu steht.

Druckplatte und Grafik in Mein Handatlas

Fiel es dir im Vergleich dazu leichter, die Grafiken zu produzieren?

Ich bin eigentlich kein Linolschnitzer, und erst nach Beenden des Handatlas-Projekts wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass es viel einfacher gewesen wäre, negativ zu schnitzen, nicht in der Positivform. Denn dabei muss alles, was nicht gedruckt wird, entfernt werden. Aber ich hatte das naiverweise so begonnen und habe das dann durchgezogen, habe mir einen Rhythmus angewöhnt und auch in diesem Jahr nichts anderes getan. Für das Schnitzen jedes Bildes brauchte ich im Durchschnitt etwa einen Tag.

Gedruckt wurde auch ganz rudimentär: Ich habe die Linolplatte eingeschwärzt, auf das am Boden liegende Blatt gelegt und bin einmal drübergelaufen (lacht). Deswegen war auch der Linolschnitt das richtige Medium, weil ich den Arbeitsprozess ohne großen Aufwand im Atelier machen konnte, ohne Druckerpresse. Das war fein, gerade in der Zeit, wo man nicht rauskonnte und es Schwierigkeiten gab, Materialien zu bekommen.

 

Der Handatlas verbindet also das Ordnen von Räumlichkeiten mit dem Wunsch, die Komplexität der Welt für sich zu sortieren. Das gefiel mir zum Beispiel im Kapitel „Neusprech“: Auf die Mercator-Projektion der Welt hast du eine OP-Maske gedruckt, und im dazugehörigen Text setzt du Schlagworte der Pandemie stakkatohaft hintereinander. Das prasselt beim Lesen regelrecht auf einen ein ...

In dieser Zeit gab es ständig neue Wörter, von denen wir gar nicht wussten, was sie bedeuteten, und doch waren sie in relativ kurzer Zeit im Sprachgebrauch. Und jeder war plötzlich Experte und gleichzeitig trotzdem völlig verloren.

Mit den Geschichten im Handatlas ging es mir ähnlich. Also, welche Wörter und Geschichten würde ich wählen, um mir die Welt zu erklären? Es sollten alles Geschichten sein, die nichts erklären oder nichts klären. Sie sind Bestandsaufnahmen, aus denen man Schlüsse ziehen könnte – oder auch nicht. Die Geschichte vom Künstler Hundertwasser zum Beispiel, der in Neuseeland lebte und von dem als künstlerischer Markstein dort eine Toilette zurückblieb – ich finde das als Geschichte stimmig, ob das nun was vom Land erzählt oder diese Anekdote wirklich wichtig ist, bleibt offen.

Natürlich ist der Handatlas ein individueller Zugang. Aber ich wollte keine Lesart vorgeben und versuchte, mich so gut wie möglich zurückzunehmen. In den Geschichten gibt es nichts klar definiertes Böses und Gutes. Es soll jeder selbst für sich bewerten, wie er dazu steht.

Arnold Mario Dall'O im Interview über Mein Handatlas

Das macht deutlich, wie divers die Mischung deiner Themen ist: skurrile Begebenheiten, Texte zu großen weltpolitischen Dingen und dann ganz persönliche Betrachtungen. Zu Turkmenistan hast du einen sehr langen Text geschrieben. Das war eine Reise von dir?

Ein Freund sagte damals, wir könnten doch mit dem Auto nach Samarkand fahren. Und so waren wir dann eineinhalb Monate unterwegs, durch den Balkan, die Türkei und Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan. Eine sehr einschneidende Reise. Das Eigenartige an der Reise war: Wir sind nie in Samarkand angekommen! Wir wurden an der Grenze zu Turkmenistan verhaftet – wegen „Drogenschmuggels“. Dabei ging es um ein Fläschchen Beruhigungsmittel. Da wir lange unterwegs waren, hatten wir einen großen Medikamentenkoffer. Und dieses kleine Fläschchen hat in einem entlegenen Grenzübergang in Usbekistan eine Geschichte entfacht, die unglaublich war.

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Im Handatlas beschreibe ich Bruchstücke dieser Reise, auch aus dem Grund, um zum Nachdenken anzuregen. Turkmenistan und Usbekistan sind schöne, friedliche Länder, doch wenn man in schwierige Situationen oder in die Mühlen der Polizei gerät, merkt man, dass man es eigentlich mit Ländern zu tun hat, in denen Menschenrechte nicht priorisiert werden.

Wir sind gewohnt – im Grunde verwöhnt –, dass wir uns in Europa grenzenlos bewegen können. Wenn man eine Grenze wie die nach Usbekistan übertreten will, kann das bis zu sechs Stunden dauern. Viele Orte der Welt ticken einfach noch völlig anders.

 

Der deutsche Pass öffnet weltweit sehr viele Türen. Das sieht für Bürger:innen anderer Länder schon ganz anders aus. Die Möglichkeiten sind in eine Plastikkarte eingeschrieben ...

Ich wurde damals dann des Landes verwiesen, weil mein Visum abgelaufen war. Die Rückreise war eine Odyssee, bis ich nach einigen Schwierigkeiten und viel Wartezeit endlich nach Riga kam. Dort ging ich durch den EU-Eingang, und da steht eine Grenzbeamtin und sagt als einfach nur „Welcome“. Das war so bewegend, nach der vorigen Erfahrung. Man spürt dann, wo wir gesellschaftlich und rechtsstaatlich stehen.

 

Hast du bei der Arbeit an Mein Handatlas eine Region entdeckt, in die du gerne nochmal reisen würdest?

Tatsächlich will ich gerne noch mal nach Samarkand – und diesmal wirklich dort ankommen!

 

Die Fragen stellte Marlen Heislitz.

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Der Autor

Arnold Mario Dall'O

Arnold Mario Dall’O, geboren 1960 in Bozen, studierte an der Accademia di Belle Arti in Venedig bei Emilio Vedova. Er war Artist in Residence in Wien (1989), Budapest (1993) und Salzburg (2013). Seit den 1980er-Jahren publizierte er zahlreiche Bücher und stellt in Galerien und Museen in Wien, Salzburg, Freiburg, Rom, Florenz, Ravenna, Bozen, Meran und vielen anderen Orten aus.


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