Das Leben im Baum – ein Traum


Italo Calvinos Der Baron auf den Bäumen mit Illustrationen von Gianluca Scigliano

Es ist ein impulsiver Ausbruch an der abendlichen Speisetafel, dem in Italo Calvinos Roman entscheidende Konsequenzen folgen. Denn der junge Cosimo di Rondò flieht auf einen Baum – und setzt in der Folge nie wieder einen Fuß auf den Boden. Er wird zum Baron auf den Bäumen, dessen Geschichte sich nun in einer exklusiv für die Büchergilde illustrierten Ausgabe neu entdecken lässt.

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Es sind wenige Worte, die ein Leben zusammenfassen: „Cosimo Piovasco di Rondò – Er lebte auf den Bäumen – Er liebte stets die Erde – Er entschwand gen Himmel“ heißt es auf dem Grabstein des Baron di Rondò, dessen fiktive Biografie der italienische Autor Italo Calvino in seinem ursprünglich 1957 erschienenen Roman Der Baron auf den Bäumen erzählt.

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Calvino, den die US-amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy einst als „einen der letzten großen Zauberer der europäischen Literatur“ bezeichnete, siedelt seine Geschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Italien an, genauer gesagt im Königreich von Genua.

Dort lebt Cosimos Vater, der Baron di Rondò, der gerne als Herzog über das Städtchen Ombrosa herrschen würde. Doch mit der ersehnten Herrschaft ist es nicht weit her, und so folgt der Alltag am Hofe des Barons ganz eigenen Regeln, die Calvino mit viel Sinn für Humor und Skurrilität schildert. Der Baron hegt die aristokratische Ahnengalerie, seine Frau wäre lieber Kriegsherrin und übt sich in der Bestickung von Rahmen mit Schlachtplänen und anderen bellizistischen Motiven. Der 12-jährige Cosimo und sein Bruder werden von einem wunderlichen Abbé – einem Diözesanpriester – aufgezogen, der an der Betreuung der Kinder zu verzweifeln droht, und die Schwester der beiden fällt durch exzentrische Essenskreationen auf.

Als nun ein Streich der Jungen etwas aus dem Ruder läuft, ist es die Schwester, die das Schicksal Cosimos entscheidend beeinflusst. Denn sie kredenzt ihren Brüdern jene Schnecken als Speise, die diese eigentlich für ihren Streich vorgesehen hatten. Cosimo lässt sich das nicht bieten und flieht trotzig von der Essenstafel, um in die Zweige einer Steineiche zu klettern. Doch wo andere Kinder nach einer solchen Episode irgendwann wieder auf den Boden zurückkehren, da beweist Cosimo Sitzvermögen. Er widersetzt sich sämtlichen Versuchen seiner Familie, ihn zur Rückkehr aus der Baumkrone zu bewegen.

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Mag Cosimos Tat anfangs noch kindlicher Trotz gewesen sein, erwächst aus ihr schnell ein ernsthaftes Vorhaben, mit dem der er eindrücklich unter Beweis stellt, dass er seine so gewonnene Freiheit nicht mehr eintauschen möchte und sie auch beibehalten wird, als nach dem Tod seines Vaters der Titel des Barons di Rondò auf ihn übergeht. Er entwickelt eine unkonventionelle, aber findige Lebensweise, mit der er weit über die Grenzen Ombrosas hinaus Aufmerksamkeit erregt. Sogar bis zum französischen Philosophen Voltaire dringt die Kunde des Barons in den Bäumen.

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Mit solchen Geistesgrößen oder anderen Zeitgenoss:innen steht Cosimo im Kontakt, pflegt Briefwechsel und verschlingt die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Der Auslöser jenes Bildungs- und Lesedrangs ist dabei – typisch Calvino – reichlich skurril und fantastisch.

Durch seinen Aufenthalt in den Bäumen kommt der junge Baron di Rondò in Kontakt mit einem schon fast legendären Räuber, der von Cosimo bei ihren Begegnungen Bücher einfordert, um in seinen Verstecken die Langeweile zu vertreiben. Tauscht Cosimo diese anfangs noch mit dem Banditen, so steigern sich Anspruch an die Lektüre und des Räubers, der von Cosimo immer kurze Inhaltsangaben der neuen Lektüre verlangt. Eine reichlich unkonventionelle Form der Leseförderung, die aber schon bald Früchte trägt: Sowohl Adeliger als auch Räuber werden vom Lesefieber gepackt, von dem sie zeitlebens nicht mehr loskommen.

Der Baron auf den Bäumen ist voll von solchen Episoden und Erzählungen, die einen wunderbaren Erzählreigen ergeben, der auch über sechzig Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Klasse eingebüßt hat. Nun ist das Buch in einer neuen illustrierten Ausgabe der Büchergilde zu erleben.

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Illustrator Gianluca Scigliano

Die grafische Gestaltung hat der junge Designer Gianluca Scigliano übernommen, den italienische Wurzeln mit dem 1985 verstorbenen Italo Calvino verbinden. Schon seit Studienzeiten an der Münster School of Design begleitet ihn dieses Buchprojekt, das er als großen und bunten Bilderbogen angelegt hat.

Seine Illustrationen unterstreichen den märchenhaften Ton von Italo Calvinos Prosa, derScigliano bei der Umsetzung dieses Romans besonders interessiert haben.

Der Kampf Cosimos um den Fortbestand des Waldes und einen gedeihlichen Umgang der Menschen mit der Schöpfung macht den jungen Baron beinahe zu einem Vorläufer von Alexander von Humboldt, Peter Wohlleben und Co. Sein unkonventionelles Leben dort in den Bäumen besitzt in der Zeit des Wald- und Artensterbens eine ganz eigene Dringlichkeit. Denn während Cosimo Maulbeerbäume, Magnolien und Ölbäume erklettert, sorgt er mit geschicktem Einsatz von Axt und vorausschauenden Planungen für ein gutes ökologisches Gleichgewicht im Wald.

Auch ist die Frage der Freiheit des Individuums ein Thema, das weit über den historischen Rahmen hinausweist und im Roman und in der Gestaltung gekonnt aufgegriffen wird. Cosimos Bruder und Schwester ordnen sich in konventionelle Lebensweisen und Rollenmodelle ein, der Baron di Rondò aber bleibt stets unangepasst und erlebt fern der Erde die größte Freiheit.

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Illustrator Gianluca Scigliano beim Signieren der Vorzugsausgaben

So besitzt Der Baron auf den Bäumen über die erzählte Handlung hinaus philosophische Tiefe, indem Calvino die Frage aufwirft, mit welchem Einsatz wir unser eigenes Glück verfolgen – und ob es sich nicht lohnen würde, selbst einmal auf einen Baum zu steigen und eine neue Perspektive aufs Leben einzunehmen.

Kennt man den 1923 auf Kuba geborenen Italo Calvino heute hauptsächlich noch für seinen trickreichen Meta-Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, so beweist diese Ausgabe von Der Baron auf den Bäumen, dass es unbedingt gilt, den italienischen Meistererzähler neu zu entdecken.

Man wird einen großartigen Erzähler finden, der den knappen Worten auf dem Grabstein des Barons auf den Bäumen umso mehr Bilder und mitreißende Episoden gegenüberstellt und dessen Biografie mit Leben füllt. Es ist eine zeitlose und höchst originelle Geschichte, die bis in unsere Gegenwart hineinragt und die sich mit den Illustrationen Gianluca Sciglianos auf das Schönste verbindet!

 

Marius Müller arbeitet in einer Bibliothek und schreibt auf seinem Blog buch-haltung.com über seine Lektüren.

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Der Autor

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© Johan Brun, via Wikimedia Commons

Italo Calvino (1923–1985), geboren in Santiago de las Vegas auf Kuba, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlags Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Er starb in Siena.


Der Illustrator

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© Florian Roy

Gianluca Scigliano, geboren 1994 in Stuttgart und aufgewachsen zwischen italienischer und deutscher Kultur, entschloss sich nach seiner Ausbildung zum technischen Zeichner zu einem Designstudium mit Schwerpunkt Illustration. Seit 2018 studiert er an der Münster School of Design.


Limitierte Vorzugsausgabe