Mit voller Power!
Der Büchergilde Gestalterpreis 2022
Ein neuer Rekord: Dreißig Studierende der Hochschule Düsseldorf reichten in diesem Jahr ihre Entwürfe für den biennalen Wettbewerb ein, der traditionell der Vergabe des Büchergilde Gestalterpreises vorausgeht. Ihre Illustrationskonzepte zu Die Gischt der Tage von Boris Vian begutachtete eine fachkundige Jury Ende Februar in Frankfurt.
„Nicht die ängstliche Reduplikation des Textes, nur die Kühnheit kann das illustrierte Buch noch retten.“ So schreibt es Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz Außen schrill, innen behäbig. Eine Notiz zur Frage der Illustration – und so lautet auch das inoffizielle Motto, der Leitspruch sozusagen, des Büchergilde Gestalterpreises.
Bei der Buchgemeinschaft weiß man um die Bedeutung der Illustration und macht es sich seit Jahrzehnten zur freudvollen Aufgabe, den Nachwuchs auf diesem Gebiet zu fördern. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern zählen unter anderem Laura Olschok mit Tschick (2016), Martin Stark mit Professor Unrat (2014) sowie als erste Gewinnerin im Jahr 2002 Katrin Stangl mit Fahrenheit 451.
Die Gischt der Tage ist eine Liebesgeschichte ohne Happy End. Eine Liebesgeschichte, die in einer fantastischen und skurrilen Welt spielt und die längst Kultstatus genießt: Boris Vians Roman zählt zu den Klassikern der französischen Moderne und landete auf dem zehnten Platz der Liste „Die 100 Bücher des Jahrhunderts“, zusammengestellt von Le Monde. In Frankreich erschien Vians drittes Werk, das er im Alter von 26 Jahren in nur drei Monaten verfasst haben soll, unter dem Titel L’Écume des jours 1947 beim renommierten Verlagshaus Éditions Gallimard. Hierzulande wurde es siebzehn Jahre später veröffentlicht, eher unspektakulär benannt nach der weiblichen Protagonistin Chloé.
Erst später erhielt die Übersetzung den poetisch anmutenden Titel Der Schaum der Tage. Warum nun also die erneute Umbenennung? Der preisgekrönte Übersetzer Frank Heibert, der den Roman 2017 neu ins Deutsche übertragen hat, liefert in seinem Nachwort die aufschlussreiche Erklärung: „Schaum liegt behaglich knisternd auf dem Badewasser – Gischt wird vom Wind davongerissen, zerweht wie die Tage, das Leben der Protagonisten, wie die ganze Welt von Vians Roman." Die große Freude des Erzählers am Spiel mit Worten und die vor Fantasie überbordenden Bilder, die einem aus der Geschichte nur so entgegenspringen, wirken vor diesem düsteren Hintergrund noch eindrucksvoller.
‚Die Gischt der Tage‘ ist eine Liebesgeschichte ohne Happy End. Eine Liebesgeschichte, die in einer fantastischen und skurrilen Welt spielt und die längst Kultstatus genießt.
Da erscheint es nur naheliegend, dass Vians Kultbuch als Opernstück adaptiert und schon dreimal verfilmt wurde, zuletzt 2013 mit Audrey Tautou in der Rolle der Chloé – und nun der elfte Titel ist, den die Büchergilde Gutenberg für ihren Gestalterpreis auserkoren hat. Dieser Auszeichnung geht ein Wettbewerb zwischen jungen Illustratorinnen und Illustratoren voraus. Studierende der Hochschule Düsseldorf, aus der Klasse Zeichnung und Illustration der Fachrichtung Kommunikationsdesign, haben unter der Betreuung von Professorin Mone Schliephack Illustrationskonzepte zu Die Gischt der Tage entwickelt und zu Papier gebracht.
Jurysitzung für den Büchergilde Gestalterpreis 2022 im Haus des Buches in Frankfurt
Zu Beginn der entscheidenden Jurysitzung Ende Februar im Frankfurter Haus des Buches liegen alle Einreichungen nebeneinander ausgebreitet auf einer meterlangen Tafel. Auffallend viele „Dummies“ befinden sich in diesem Jahr darunter, die fast schon wie verkaufsfertige Buchexemplare anmuten. Zum Teil sind sie aufwendig gestaltet, mit Lesebändchen, Farbschnitten, gestaltetem Vor- und Nachsatz und den Illustrationen angepasster Typografie. Der Einsatz von Farbe ist eher spärlich, viele Entwurfe sind schwarz-weiß – und dabei doch so unterschiedlich, wie man es sich bei identischer Textvorlage nur schwer vorstellen kann. Mal durchziehen die Illustrationen den Roman im Großformat auf einer Doppelseite, dann wieder einseitig oder als Vignette, mal liefern die Studierenden einen begleitenden Text zu ihrem Entwurf, dann wieder vertrauen sie darauf, dass er ganz ohne Erklärung auf die Jurorinnen und Juroren wirkt.
Diese beginnen ihre Arbeit am Vormittag mit einer stillen und konzentrierten Begutachtung der Einreichungen. Hier und dort sieht man jemanden schmunzeln, die Stirn runzeln oder einen Gedanken notieren. Nach einer stärkenden Mittagspause beginnt dann der Austausch zwischen Thomas Hummitzsch, Christine Moosmann, Franziska Neubert, Philip Waechter und Cosima Schneider. Die Büchergilde-Herstellerin Schneider berichtet, dass sich seit ihrem ersten prüfenden „Schulterblick“ auf die Arbeiten der Studierenden rund zwei Monate zuvor sehr viel getan habe.
Anschließend wird nacheinander jeder Entwurf besprochen, denn alle Studierenden erhalten eine individuelle Rückmeldung. Schnell wird deutlich: Hier sprechen Menschen vom Fach! Beurteilt wird nach Originalität, Stringenz, Qualität der Zeichnungen, Verhältnis zwischen Text und Illustration – doch natürlich spielt auch das Bauchgefühl eine Rolle. Überwiegend ist sich die fünfköpfige Jury einig in ihrer kritischen, aber stets wertschätzenden Beurteilung. Einer der Entwürfe zeigt nur Räume, ganz ohne Menschen, ein anderer ist in einen Stoffbeutel als eine Art Schuber verpackt. Ein Studierender hat sich für Illustrationen zum Ausklappen entschieden, eine andere Teilnehmerin für einen Farbschnitt in Regenbogenfarben. Acht der dreißig Einreichungen landen schließlich auf dem Stapel derer, über die ein zweites Mal gefachsimpelt wird.
Die Power und Entschlossenheit dieses sehr bunten, sehr vollen und dichten Entwurfes haben uns absolut begeistert. Sven Wang hat einen mutigen Ansatz gewagt, der keine ängstliche Reduplikation des Textes ist. Und die zeichnerische Qualität der aufwendig angefertigten Illustrationen ist Spitzenklasse.
Daraus die besten fünf auszuwählen, fällt den Jurorinnen und Juroren schon merklich schwerer. Letztlich kann nur ein Entwurf gewinnen, und so werden zunächst die eindrucksvollsten drei ausgewählt – dann geht es um die sprichwörtliche Wurst: Per Punktzettel entscheidet sich die Gestalterpreis-Jury letztlich einstimmig für den Entwurf von Shiwen Sven Wang. Sein farbintensives Konzept für Die Gischt der Tage hat sie nicht zuletzt aufgrund der Konsequenz überzeugt, mit der er die Bildgeschichte von der ersten bis zur letzten Zeichnung gestaltet hat: „Die Power und Entschlossenheit dieses sehr bunten, sehr vollen und dichten Entwurfes haben uns absolut begeistert. Sven Wang hat einen mutigen Ansatz gewagt, der keine ängstliche Reduplikation des Textes ist. Und die zeichnerische Qualität der aufwendig angefertigten Illustrationen ist Spitzenklasse“, so die Begründung der Jurorinnen und Juroren.„Wir wollen mit dem Gestalterpreis durchaus neue Wege gehen, überraschen. Sven Wangs Illustrationen merkt man die tiefe Auseinandersetzung mit dem Text an. Seine subjektive Umsetzung ist so fesselnd wie der Text selbst. Das ist beeindruckend“, ergänzt Cosima Schneider.
Aufs Neue zeigt sich beim Gestalterpreis Wettbewerb 2022, dass das Vertrauen der Buchergilde Gutenberg in das Können angehender Illustratorinnen und Buchgestalter nicht nur gerechtfertigt, sondern eine echte Bereicherung ist.
Ein Beitrag von Laura Sprenger
„Eine rauschend schwüle Welt“ – Shiwen Sven Wang im Büchergilde-Interview
Shiwen Sven Wang illustriert als Gewinner des Büchergilde Gestalterpreises Boris Vians Die Gischt der Tage. Im Interview erzählt er vom Eintauchen in surreale Welten, seinem Arbeitsprozess und von der Aktualität des Romans.
Deine Bilder wirken durch ihre Farbigkeit und die vielen Elemente spielerisch, dahinter lagen aber akribische Planungsprozesse. Magst du uns mal von der Skizze bis zur Reinzeichnung navigieren?
Shiwen Sven Wang: Es gab bei der Gestaltung des Buches zwei Dimensionen: Ich habe die generelle Dramaturgie innerhalb des Buches abgestimmt – also z. B., wo genau Illustrationen benötigt werden. Dann habe ich überlegt, wie die einzelnen Seiten bespielt werden, was die Illustration hier genau leisten sollte.
Ich habe zwischen diesen beiden Ebenen konstant gewechselt, habe Illustrationen gestrichen, auch wenn diese schon fertig waren, oder neue gestaltet, wenn sie benötigt wurden. Das alles habe ich in einer großen Tabelle geplant, in der alle Kapitel und Charaktere sowie Spannungsbogen und Schlüsselmomente eingetragen waren. Wenn ich merkte, hier benötige ich eine Illustration, dann habe ich das betroffene Kapitel mehrmals durchgelesen und Schlagwörter und Figuren aufgeschrieben. Diese habe ich mehrfach skizziert und die besten Ideen miteinander verbunden.
Fortgeschrittene Skizzen wurden mit Bleistift reingezeichnet und eingescannt. Den Scan habe ich dann mit einem Laserdrucker mit 30-prozentiger Deckkraft ausgedruckt; diese Kopie kolorierte ich mit Buntstift. Dies wurde erneut eingescannt, digital nachbearbeitet und mit der Bleistiftzeichnung kombiniert. Der Prozess ist also durchgestaffelt, mit analogen wie auch digitalen Mitteln. So wurden immer wieder die Schwächen des einen Mediums jeweils durch die Stärken des anderen ausgeglichen. Ich finde solche Beziehungen zwischen Analog und Digital ungemein spannend, in einer Zeit, in welcher wir anscheinend versuchen, alles zu digitalisieren.
In deinen Zeichnungen lassen sich einige kunsthistorische Referenzen entdecken: Salvador Dalis berühmte Uhr zum Beispiel oder auch japanische Holzschnitte. Was inspirierte dich dazu?
In den Illustrationen ist eine Menge versteckt. Zu Beginn des Kurses recherchierten wir sowohl zu Buch und Autor als auch zu den Themen und Strömungen der Zeit Boris Vians. Dalis surrealistisches Bild passte hier als Motiv perfekt zum Roman. In meiner Illustration lauft Colin im Fiebertraum auf der schmelzenden Uhr, an einem Ort, der auf das Höhlengleichnis von Plato anspielt. Mit einem letzten Funken Hoffnung blickt Colin auf falsche Schatten, auch wenn wir LeserInnen schon längst sehen: Der Weg hinaus ist ihm nicht mehr möglich.
Seit 2019 begleitet mich ein Buch über Shunga – japanische Erotik-Kunst im Holzdruck. Es ist faszinierend, wie dort der begrenzte Platz einer Seite mithilfe kluger Perspektiven so sinnvoll und narrativ geladen wird. 2021 begegnete ich dann im Berliner Humboldt Forum dem Holzdruck eines Kabuki-Theaters. Die Verschachtelungen im Bild begeisterten mich; ich hatte vorher zwar schon Raume und Szenen zugunsten der Narrative verbogen und verzerrt – doch diese Dichte und die Komplexität fand ich überaus passend zu Vians geladener Welt.
Zudem waren die Ukiyo-e (Bez. f. jap. Druckgrafiken) von stilistischen Motiven und Mustern durchdrungen, die mit den mir bereits bekannten Stilmitteln harmonierten: das Paar, das post-koital, umgeben von Alltags- und Statusobjekten, in einer rauschend-schwülen Welt sitzt, der Tod am Horizont. Sozusagen eine kurze Haltestelle, an welcher der/die LeserIn das Meer und die Gischt betrachten kann, bevor sie direkt wieder in die hitzigen Straßenszenen und Fabrikhallen der Geschichte geworfen wird.
Es wirbeln Pixel und Computer durch deine Illustrationen, ein politischer Slogan blitzt auf. Wie viel Kontemporäres oder Futuristisches steckt für dich in Boris Vians Die Gischt der Tage?
Vian hat einige seiner Meinungen und Haltungen in seinem Buch kraftvoll anschaulich gemacht – eine bloße Verbildlichung seines Textes wollte ich jedoch vermeiden. Er setzt sich mit Themen wie Polizeigewalt, der Kette der Verantwortung und des Gehorsams oder auch dem Personenkult auseinander – das ist alles immer noch hochaktuell.
Ein Beispiel wäre hier Partre (im Buch eine Anspielung auf Jean-Paul Sartre), den ich dem Unternehmer und Milliardär Elon Musk ähneln ließ. Genau wie Partres Fans für ihr Idol Leib und Leben riskieren, versenken Tausende Elon-Musk-AnhängerInnen auf einen halb-sarkastischen Tweet hin ihr Erspartes in eine spekulative Kryptowährung. Geld, das sie während einer Pandemie eigentlich bitter benötigen … Und die Tatsache, dass Donald Trump den Slogan „Make America great again“ von Ronald Reagans Kampagne abgeleitet hat, zeigt, wie wenig sich Wunsche, Ängste und Bedürfnisse im Kern geändert haben.
Die Gischt der Tage wird relevant bleiben – denn dass das Buch nicht Wort für Wort verstanden werden sollte, dafür hat Vian bereits gesorgt. Meine Absicht war es, dem Text Bilder zur Seite zu stellen, die im gleichen Sinne wirken.
Mich beschäftigt sehr, was für eine Rolle Illustration in unserer Welt spielen kann. Es ermutigt dabei enorm, etablierte Vorbilder zu sehen und umgeben von talentiertem Nachwuchs zu sein. Ich bin mir sicher, wir IllustratorInnen werden noch viele Grenzen erweitern.
Was steht als Nächstes bei dir an?
Seit zwei Jahren arbeite ich an Illustrationsbaukasten. Bisher ist jeder Baukasten gescheitert – doch es „scheitert langsam vorwärts“, wenn das Sinn ergibt –, das stimmt hoffnungsvoll.
Mich beschäftigt sehr, was für eine Rolle Illustration in unserer Welt spielen kann. Es ermutigt dabei enorm, etablierte Vorbilder zu sehen und umgeben von talentiertem Nachwuchs zu sein. Ich bin mir sicher, wir IllustratorInnen werden noch viele Grenzen erweitern. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich „Mein Gott, ich liebe Illustration“ am Mac-Book flüstere – solange das bleibt, ist alles gut.
Danke für das Gespräch!
Die Fragen stellte Marlen Heislitz.
Büchergilde Gestalterpreis 2022
Der Gestalterpreis 2022 ging an Shiwen Sven Wang für seine mutige und kraftvolle visuelle Umsetzung von Boris Vians Roman Die Gischt der Tage. Vians märchenhafter Zauber und seine virtuose Sprachlust werden von Frank Heibert genüsslich ins Deutsche transportiert und von Illustrator Shiwen Sven Wang in starker Farb- und Formsprache visualisiert.
Der Illustrator
Shiwen Sven Wang, geboren 1998 in Münster, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Er studiert seit 2018 Kommunikationsdesign an der Hochschule Düsseldorf. Seine Arbeiten sind in Büchern, Magazinen und in Orientierungssystemen aufzufinden.
Der Autor
Boris Vian (1920–1959), geboren in Ville d’Avray in Frankreich, arbeitete als Ingenieur, bis er sich seinem ersten Roman widmete. Gleichzeitig machte er Karriere als Jazzmusiker und schrieb Musikkritiken. Sein Roman Ich werde auf eure Gräber spucken war ein Bestseller, bis er wegen Anstößigkeit verboten wurde. Vian arbeitete an Filmprojekten und betätigte sich als Übersetzer, Redakteur, Schauspieler sowie Verfasser von Chansons, Novellen, Sketchen und Ballettentwürfen. Er starb in Paris.
Der Übersetzer
Frank Heibert, geboren 1960, übersetzt seit 1983 aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen. Er wurde mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für literarische Übersetzer, dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.