Das Jahrhundert der Gisèle


Mythos und Wirklichkeit einer Künstlerin

Die niederländische Künstlerin und Mäzenin Gisèle van Waterschoot van der Gracht (1912-2013) lebte 100 Jahre bewegtes Leben: Sie bewegte sich in den Künstlerkreisen um Aldous Huxley und Max Beckmann, schützte jüdische Menschen vor den Besatzungsmächten und gründete das Kunstrefugium „Castrum Peregrini“. Annet Mooij zeichnet ein romanhaftes europäisches Künstlerinnenleben nach, mit all seinen Widersprüchen.

171635_Mooij_Gisèle_3D_01.png

Als ich mich im Frühjahr 2017 im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße mit Annet Mooij traf, um mit ihr über Gisèle und das Leben an der Amsterdamer Herengracht zu sprechen, war ich skeptisch. Ich hatte als junger Mann zehn Jahre im Haus von Gisèle gelebt, die von ihr getragene Wohngemeinschaft „Castrum Peregrini“ 1984 im Streit verlassen und mich später mit diesem mir inzwischen ein wenig verdrießlich gewordenen Abschnitt meiner Biografie einigermaßen versöhnt. Weder wollte ich mit den Geschichten von damals noch einmal konfrontiert werden, noch vermochte ich mir vorzustellen, dass eine Autorin Jahrzehnte später sine ira et studio die Abgründe würde ermessen können, die das Leben im Elfenbeinturm der Herengracht mit sich brachte.

Um es voranzuschicken: Annet Mooij hat ein wunderbares Buch geschrieben, ein Buch, das den Leser von Anfang bis Ende fesselt. Es ist getragen von Respekt, Zuneigung und kämpferischer Empathie für die Hauptfigur und genügt zugleich den Standards einer modernen, gut erzählten Biografie. Wenn Annet Mooij Partei ergreift, dann stets im Sinn und im Interesse ihrer Protagonistin. Sie stellt die richtigen Fragen – und Gisèles Biografie wirft eine Menge Fragen auf –, erhebt sich aber nirgendwo zur Richterin. Aus den vielen Märchen und Legenden, die sich im Laufe der Zeit um das „Castrum Peregrini“ gebildet haben, rekonstruiert sie mit viel Gespür für die heiklen Bruchstellen das Leben einer Künstlerin, die sich im Laufe ihres Lebens immer wieder neu erfand. Mit Recht hat die niederländische Presse das Buch von Annet Mooij bei seinem Erscheinen im September 2018 mit höchstem Lob bedacht.

Castrum Peregrini, Herengracht Amsterdam
Castrum Peregrini, Herengracht Amsterdam

Annet Mooij hat ein wunderbares Buch geschrieben. Es ist getragen von Respekt, Zuneigung und kämpferischer Empathie für die Hauptfigur und genügt zugleich den Standards einer modernen, gut erzählten Biografie.

Thomas Karlauf

Worum geht es? Zunächst um die Biografie einer jungen Frau aus einer jener weit verzweigten alten Familien, aus denen sich in der Zwischenkriegszeit die europäische Jeunesse dorée rekrutierte. 1912 als Tochter eines holländischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Den Haag geboren, verlebte Gisèle van Waterschoot van der Gracht ihre Kindheit in den USA, wo ihr Vater als Geologe für Ölunternehmen nach neuen Quellen suchte. Nach dem Kunststudium in Paris erlernte sie Mitte der Dreißigerjahre die Technik der Glasmalerei, eine Entscheidung, die zweifellos damit zusammenhing, dass sie eine Beziehung mit ihrem Lehrer eingegangen war, die erst durch den Krieg beendet wurde.

Während der deutschen Besetzung der Niederlande machte sich Gisèle einen Namen mit Porträtaufträgen; in den Fünfzigerjahren war sie dann als Designerin großer Wandteppiche für Passagierdampfer und Konzernzentralen erfolgreich; Ende der Sechzigerjahre fand sie schließlich in einer alten Klosteranlage auf der Insel Paros, die sie liebevoll restaurierte, zu einem ihr gemäßen Altersstil. Als sie Paros 1982 verlassen musste – der griechische Staat konfiszierte das Kloster für den Massentourismus –, packte Gisèle bis auf die letzte Muschel alles ein und baute sich ihr kykladisches Gesamtkunstwerk im Dach des Amsterdamer Hauses, der ehemaligen Kantine eines Versicherungskonzerns, Stein für Stein noch einmal auf. Statt auf das glitzernde Meer schaute sie jetzt auf die großformatigen Bilder, die sie auf Paros gemalt und auf denen sie das Licht der Ägäis für immer festgehalten hatte. Gefragt, ob der erzwungene Abschied von der griechischen Insel ihr nicht schwergefallen sei, meinte sie, auch hier habe sie ja jetzt ihre Insel. So vielseitig und eigenwillig Gisèle als Künstlerin war, in keinem Bereich wollte ihr der entscheidende Durchbruch gelingen. Sie ertrug es, und statt zu jammern, begann sie jedes Mal etwas Neues.

171635_Mooij_Gisele_AB_BA_01.jpg

Im Sommer 1940, bald nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Niederlande, hatte Gisèle den deutschen Literaten Wolfgang Frommel kennengelernt: Es war die ihr weiteres Leben schicksalhaft bestimmende Begegnung. Zwei Jahre später setzte in Holland die Deportation der Juden ein. Gisèle stellte Frommel und zwei seiner jungen jüdischen Freunde ihre kleine Wohnung an der Amsterdamer Herengracht zur Verfügung. Die „Untertaucher“, denen sich bald weitere junge Holländer anschlossen, vertrieben sich ihre Zeit mit dem Exerzitium von Gedichten, die sie abschrieben, auswendig lernten, interpretierten. Frommel, der dabei einem pädagogischen Konzept in der Nachfolge des Dichters Stefan George folgte, stilisierte die Gruppe zu einer verschworenen esoterischen Gemeinschaft.

Das Problem für Gisèle: Der Männerbund duldete keine Frauen. Sie wollte dazugehören – schließlich ermöglichte sie nicht nur das Überleben, sondern brachte auch künstlerische Veranlagung mit –, aber sie durfte nicht, schlicht, weil sie eine Frau war. Die Verwirrungen und Konflikte, die aus dieser Konstellation erwuchsen, bilden den eigentlichen dramatischen Stoff des Buches von Annet Mooij. Bereits vor Erscheinen der Originalausgabe waren in Holland Hinweise aufgetaucht, dass Frommels pädagogische Bemühungen deutlich päderastische Züge trugen und in dem von ihm dominierten Kreis manche Pädophile ihr Unwesen getrieben hatten. Im Frühjahr 2018 beschäftigten sich im Zuge der #Metoo-Debatte auch deutsche Zeitungen mit dem Missbrauch Minderjähriger rund um „Castrum Peregrini“.

Aus all den gut dokumentierten Widersprüchlichkeiten und Inkongruenzen heraus zeichnet Annet Mooij mit ihrer Biografie präzise die faszinierende und aufregende Geschichte Gisèles nach.

de Volkskrant

Wusste Gisèle, was in ihrem Haus vorging? Wie weit reichte ihr Wissen? Sie hatte genug gesehen, um zu ahnen, dass Frommel seinen Jungen ein sexuelles Korsett verpasste, das den meisten nicht gefiel und aus dem sie sich früher oder später befreien mussten – wenn sie es denn konnten. Sie erlebte zahlreiche menschliche Tragödien, in denen viele dieser Ausbruchsversuche endeten. Anfang der Sechzigerjahre kam es wegen eines marokkanischen Jungen, den Frommel ins Haus geholt hatte, sogar zu diplomatischen Verwicklungen, die nur mit Hilfe des ehemaligen Bürgermeisters von Amsterdam, mit dem Gisèle von 1959 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1967 verheiratet war, gelöst werden konnten.

Gisèle - Gedenktafel am Castrum Peregrini
Gisèle - Gedenktafel am Castrum Peregrini

Über alle Enttäuschungen hinweg hielt Gisèle unbeirrbar fest an ihrer Bewunderung für Frommel. Die vielen jungen Leute, die, von ihm angelockt, in die Herengracht strömten, bereicherten auch ihr Leben. Das Fundament aber, auf dem die „Castrum“-Gemeinschaft ruhte, waren die gemeinsamen Erinnerungen an die Kriegsjahre. Man fühlte sich schicksalsverbunden. Dank einer spezifischen Erinnerungskultur, in der das physische Überleben in der Zeit des Untergrunds gekoppelt war an geistige Exerzitien, erwies sich dieses Fundament über Jahrzehnte als tragfähig.

War Gisèle in der Tradition des „Castrum“ zu Frommels Lebzeiten weitgehend marginalisiert worden, so rückte sie nach dessen Tod 1986 immer stärker in den Mittelpunkt. „Gisèle und ihre Untertaucher“ lautete 2007 der Titel einer umfassenden Ausstellung im zentralen Niederländischen Institut für die Dokumentation des Zweiten Weltkriegs (NIOD). Als Gisèle 2013 mit über hundert Jahren starb, war sie in den Niederlanden durch Filme und Bücher zu einer Ikone des Jahrhunderts geworden: Schlicht Gisèle lautete der Titel eines in ihrem Todesjahr erschienenen Romans einer in Holland populären Schriftstellerin.

171635_Mooij_Gisele_AB_BA_02.jpg

Annet Mooij hat dieses Leben keineswegs sine ira et studio nachgezeichnet, sondern Partei ergriffen: für eine Frau, die so unzeitgemäß war, dass sie sogar die päderastischen Verirrungen des charismatischen Frommel ertrug. Die Frage, ob Wolfgang Frommel wirklich jemals ihr Liebhaber geworden war, diese Frage weiß allerdings selbst Annet Mooij nicht zu beantworten. Dass die erotischen Details dieses Verhältnisses in der Schwebe bleiben, verleiht dem Buch jene Aura des letztlich Unauflöslichen, die eine gute Biografie auszeichnet.

 

Thomas Karlauf, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebte von 1974 bis 1984 im Haus von Gisèle. In der Büchergilde Gutenberg erschien 2007 seine Biografie Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. 2019 veröffentlichte er Stauffenberg. Porträt eines Attentäters.


Die Autorin

Mooij, Annet © Michiel van Nieuwkerk.jpg

Annet Mooij, geboren 1961, hat sich mit den unterschiedlichsten historischen Themen beschäftigt, bevor sie sich verstärkt der biografischen Forschung zuwandte. Ihre Künstlerbiografie Das Jahrhundert der Gisèle war ein großer Erfolg in den Niederlanden und wurde für verschiedene Preise nominiert. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam.


Der Übersetzer

Gerd Busse, geboren 1959, lebt in Dortmund und ist als Sozialwissenschaftler, Übersetzer, Publizist, Lektor und Herausgeber tätig. 2012 erschien von ihm Typisch niederländisch. Die Niederlande von A bis Z. Er ist Übersetzer des siebenbändigen niederländischen Monumentalromans Das Büro von J.J. Voskuil.


Empfehlung